
Rechtschreibkunde für Grundschüler Teddy erklärt das kurze i
Vorne neben der Tafel, auf zwei zusammengerückten Grundschulstühlen, steht ein Spielzeugboot aus Holz. Darin sitzen sechs Teddybären mit selbstgestrickten Pullis. Sie haben sechs Buchstaben um den Hals: f-i-n-d-e-n. Lehrerin Barbara Pagel, 30, hebt das Boot in die Luft, schwenkt es hin und her.
"Welche der beiden Silben in dem Wort ist betont?", fragt Pagel. Ihre Klasse klatscht zweimal in die Hände: Patsch-patsch. Fin-den. "Die erste!", ruft Zweitklässler Paul*. "Und ist das 'i' in der ersten Silbe lang oder kurz?" Viele kleine Arme sausen in die Luft. "Kurz, weil der Matrose Max dabei ist und der Kapitän auf See nur kurz arbeiten muss", sagt ein anderer Junge.
Der Kapitän ist ein Teddy mit rotem Pulli. Er sitzt an zweiter Stelle im Boot und steht für das "i". Der Matrose Max sitzt daneben, trägt einen blau-weißen Pulli und ein Schild mit dem Buchstaben "n" um den Hals. Und weil Max mit in der vorderen Hälfte des Bootes sitzt, schreibt man "finden" mit kurzem "i". Und nicht "fienden" oder "fihnden".
Die Regel funktioniert für die meisten deutschen Wörter mit "i" in der ersten Silbe - bis auf Ausnahmen wie etwa "Tiger". Da muss Kapitän "i" lange arbeiten, weil Matrose Max nicht im vorderen Teil des Bootes sitzt, und man müsste ihm ein helfendes "e" zur Seite stellen: ein "Tieger" mit "ie".
"Wirklich repräsentative Studien gibt es nicht"
"Doch eigentlich ist die deutsche Sprache regelmäßiger als viele denken", sagt Pagel. An der Schule Iserbrook in Hamburg vermittelt sie ihren Schülern ab der ersten Klasse die Orthografie nach festen Regeln. Mitentwickelt und wissenschaftlich begleitet hat das Konzept die Sprachdidaktikerin Inge Blatt von der Uni Hamburg.
Demnach identifizieren die Kinder betonte und unbetonte, offene und geschlossene Silben, erkennen lange und kurze Vokale. Überfordert scheinen sie nicht zu sein: "Das mit den Bären hat uns geholfen, so haben wir es leichter gelernt", sagt der achtjährige Finn*. Und die sieben Jahre alte Yara* sagt stolz: "Ich habe das seit der ersten Klasse begriffen." Pagel setzt das um, was Experten verstärkt fordern: Einen Rechtschreibunterricht, der Schülern genauer vermittelt, wie die deutsche Sprache aufgebaut ist. Das Ziel: Kinder in Deutschland sollen wieder besser schreiben lernen.
Aber steht es wirklich so schlimm um die Orthografie? Eine Antwort ist nicht leicht zu finden. Für eine Ergänzungsstudie zur Iglu-Leseuntersuchung 2006 wurde bundesweit das Rechtsschreibvermögen von Grundschülern abgefragt. In einem Test mit 35 Wörtern schrieben die Kinder im Durchschnitt beinahe die Hälfte falsch. Die Ergebnisse waren geringfügig besser als die der ersten Iglu-Studie fünf Jahre zuvor. "Bei der ersten Untersuchung waren wir etwas schockiert", erinnert sich die pensionierte Schulforscherin Renate Valtin, die damals dem Iglu-Wissenschaftlerteam angehörte.
Im Rahmen der Iglu-Studie 2011 wird Rechtschreibung nicht wieder getestet. Stattdessen haben die Bundesländer eigene Tests in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse sie im kommenden Jahr vorstellen wollen, teilt die Kultusministerkonferenz mit. Mindestens bis dahin aber bleibt die Datenlage mau. "Wirklich repräsentative Studien, die für ganz Deutschland verallgemeinerbar sind, gibt es nicht", sagt Valtin.
Mit bunten Bildchen zum Wort
Erziehungswissenschaftlerin Christa Röber von der Pädagogischen Hochschule Freiburg ist dennoch sicher: "Um die Rechtschreibung steht es absolut nicht gut." Und die Wurzel des Übels liege in der Art, wie Orthografie gelehrt werde. Rechtschreibregeln würden in der Grundschule vernachlässigt. Röber hat, ähnlich wie ihre Kollegin Blatt von der Uni Hamburg, eine silbenanalytische Methode zum Schreibenlernen für Grundschüler entwickelt. Statt mit zweigeteilten Schiffchen arbeitet sie mit Häusern und Garagen. In ihrer Analyse sind sich die beiden einig: Die Strukturen der Rechtschreibung dürfen nicht zu kurz kommen.
Es gibt aber auch Pädagogen, die halten Rechtschreibregeln ab Klasse eins für weniger wichtig. Zu ihnen gehört Cornelia Kastel, 56. Sie unterrichtet seit mehr als 20 Jahren nach der Methode "Lesen durch Schreiben". Ihre Schüler üben nicht gemeinsam das ABC, sondern sie schreiben von Anfang an Wörter und Texte. Dafür hören sie auf die Klänge der Buchstaben und schreiben dann die passenden Buchstaben von einer Anlauttabelle mit bunten Bildern ab. So sollen sie die Laute und die dazugehörigen Buchstaben verinnerlichen und nebenbei auch lesen lernen, in ihrem eigenen Tempo, sagt Kastel.
In Kastels Lerngruppe aus Erst- und Zweitklässlern sitzt Martin*. In seiner fünften Schulwoche beugt er sich über sein Heft, daneben liegt die Anlauttabelle mit den erklärenden Bildchen. "Ich schreibe das Wort Lupe", sagt er. "L - und jetzt ein B wie Banane? Ein E wie Ente?" Martin überlegt. Dann strahlt er: "Ein U wie Hut!" Und schreibt "Lh…", weil "Hut" mit "h" beginnt und die Bilder in der Tabelle nach ihren Anfangsbuchstaben ausgewählt sind. Kastel unterbricht ihn und erklärt den Fehler. "Er kann noch nicht lesen, was er geschrieben hat", sagt sie. Manchmal helfen sich ihre Schüler auch gegenseitig.
Kastels Schüler tasten sich selbstständig schreibend an die Orthografie heran. Werde es zu regelhaft, gehe die Kommunikation unter, sagt die Lehrerin. Noch mehr Regeln, das müsse nicht sein. "Sprache ist wie ein tanzender Tausendfüßler", sagt sie. "Er tanzt wunderschön, bis jemand fragt: Mit welchem Fuß fängst du eigentlich an?"
Unvermögen im Lehrerzimmer? "Vielen sind präzisere Regeln zu komplex"
Die Methode "Lesen durch Schreiben" entstand in den achtziger Jahren. Ihr Begründer ist der Schweizer Pädagoge Jürgen Reichen. Sie war in den neunziger Jahren verbreitet, nun werde sie kaum noch in der reinen Form angewandt, sagt Peter May vom Hamburger Institut für Lehrerfortbildung.
Damals marschierten viele Fachleute in eine andere Richtung als heute. Rechtschreibung war bei manchem Achtundsechziger als willkürlich verpönt, in den Siebzigern sollten darum die Fesseln der Orthografie gelockert werden, sagt May. "Man sagte sich damals: Es gibt Wichtigeres im Leben, es gibt ja Wörterbücher." Als Folge sei die Rechtschreibkompetenz zunächst in Westdeutschland und nach der Wende auch im Osten massiv eingebrochen.
In Großstädten hat heute beinahe jeder zweite Schüler mindestens einen ausländischen Elternteil. Die Rahmenbedingungen hätten sich dadurch verändert. "Die Schule ist nicht schlechter geworden, aber die Probleme sind größer als früher." Wenn das Gefühl für die Sprache fehle, werde es mit einem weniger regelbasierten Schreibenlernen problematisch. Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen und keine gute Aussprache haben, seien von dem kreativen Ansatz überfordert, sagt May.
Konsonanten blau, Vokale rot
Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben aber längst nicht nur Schüler, die zu Hause kein Deutsch sprechen. Auch junge Muttersprachler können sehr oft nicht hören, dass in "Fisch" ein "i" steckt und dass "Butter" auf "er" endet, sagt Erziehungswissenschaftlerin Röber. Darum wollen sie und viele ihrer Kollegen den Schülern stärker als bislang beibringen, wie die deutsche Sprache funktioniert. Die ehemalige Iglu-Forscherin Renate Valtin bemängelt: "Meist erschöpft sich der Rechtschreibunterricht im Abschreiben, Abschreiben, Abschreiben, Üben, Üben, Üben." Einsicht in die Strukturen der Sprache komme dabei zu kurz.
Grundschullehrerin Barbara Pagel hat nach dem Referendariat in Hamburg-Wilhelmsburg unterrichtet - einem der ärmeren Viertel in der reichen Stadt. Dort hatten viele Schüler eine andere Muttersprache als Deutsch, die meisten stammten aus bildungsfernen Haushalten. "Nur mit freiem Schreiben hätten die Kinder viel weniger Erfolg beim Lesen und Schreiben gehabt", sagt sie. Stattdessen ließ sie ihre Schüler Vokale mit roten, Konsonanten mit blauen Stiften schreiben. Sie brachte ihnen bei, dass jede Silbe mindestens einen roten Buchstaben braucht.
Um das vermitteln zu können, muss sich jedoch erst der Lehrer mit den Gesetzmäßigkeiten der Sprache auseinandersetzen. "Vielen sind neue, präzisere Rechtschreibregeln zu komplex", sagt Röber. An Grundschultafeln beschränkten sich die Regeln auf Sätze wie: Nomen erkennt man am Artikel und man schreibt sie groß. Solche vagen Vorgaben führten jedoch oft auf die falsche Fährte.
Auch Renate Valtin glaubt, dass es Lehrern oft selbst am Rüstzeug für eine umfassende grammatische Regelkunde fehlt. "Viele Lehrer haben bisher viel zu wenige Grammatikkenntnisse erworben." Damit Orthografie Schülern nicht bis ins spätere Leben ein Rätsel bleibt, müsse sich bei der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte etwas ändern.
Auch Lehrerfortbilder May hält die Lehrerausbildung für den Schlüssel zu besserer Rechtschreibung, sieht sie aber schon auf einem guten Weg. "Ein guter Lehrer weiß, welche Methode er bei welchen Kindern anwendet", sagt er. Ein geniales Kind finde es womöglich tödlich langweilig, wenn es jeden Tag Regeln lernen müsse. Dann sei das freie Schreiben nach Jürgen Reichen eine gute Lösung. Bei vielen Schülern allerdings müsse man ein wenig Freiheit gegen mehr Struktur eintauschen, wenn sich das Rechtschreibniveau verbessern soll. Letztlich, sagt May, komme es immer auf den Schüler an.
* Namen der Kinder von der Redaktion geändert