Schuldebatte "Sie irren, wenn Sie eine Rechtschreibkatastrophe heraufbeschwören"

Grundschüler müssen nicht gleich fehlerfrei schreiben lernen, findet Hans Brügelmann, einer der einflussreichsten Pädagogen Deutschlands. Kritiker geben dieser Methode die Schuld daran, dass viele Kinder die Rechtschreibung nie richtig erlernen. Im Interview verteidigt Brügelmann seinen Ansatz.
Rechtschreibung: Wie lernen Grundschulkinder sie am besten?

Rechtschreibung: Wie lernen Grundschulkinder sie am besten?

Foto: Frank Rumpenhorst/ dpa

SPIEGEL: Sie haben in den achtziger und neunziger Jahren geholfen, neue Methoden zum Schreibenlernen an den Grundschulen zu etablieren. Jetzt können die Kinder leider nicht mehr richtig schreiben. Tut Ihnen das leid?

Brügelmann: Moment! Sie irren, wenn Sie eine "Rechtschreibkatastrophe" heraufbeschwören. Ähnliche Panikmeldungen finden sich seit dem 19. Jahrhundert alle Jahre wieder. Die Daten aus Vergleichsstudien mit Diktaten und Aufsätzen fallen sehr unterschiedlich aus. Sie belegen nicht, dass die Rechtschreibleistungen generell eingebrochen seien.

SPIEGEL: Sie bestreiten trotz teilweise katastrophaler Studienergebnisse, dass es mit der Rechtschreibung seit Jahren abwärts geht?

Brügelmann: Ich sage, dass die Datenlage zu einem Rechtschreibverfall widersprüchlich ist. Es gab zu den meisten Zeiten mehr Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten als heute. Das zeigt aktuell die repräsentative "leo."-Untersuchung.

SPIEGEL: "leo." ist eine Untersuchung über funktionalen Analphabetismus. Selbst in der Kategorie "Fehlerhaftes Schreiben" - in der die 40- bis 49-Jährigen übrigens besser abschneiden als die Jüngeren - geht es nicht nur um die Rechtschreib-, sondern auch um die Lesefähigkeiten. Unbestritten dagegen ist, dass Sie einer der einflussreichsten Pädagogen Deutschlands sind. Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit erlebt?

Brügelmann: Damals, in den fünfziger und sechziger Jahren, war klar: Die Lehrer haben immer recht. Die völlig ungebremste Machtausübung der Lehrer damals, das war für mich der emotionale Impuls, Pädagoge zu werden, obwohl ich ja ursprünglich Jura studiert hatte. Ich wollte eine andere Schule.

SPIEGEL: Damit waren Sie in den siebziger Jahren nicht der Einzige.

Brügelmann: Nein, die 68er-Bewegung verbreitete eine enorme Aufbruchstimmung, in der die Gleichwertigkeit auch von Kindern und Erwachsenen eine wichtige Rolle spielte. Erst 1989 ist das dann in der Uno-Kinderrechtskonvention als ausdrücklicher Anspruch auch an Schulen verankert worden.

SPIEGEL: Ab 1980, als Professor an der Universität Bremen, machten Sie sich daran, einen eigenen reformpädagogischen Ansatz zu entwickeln. War das noch nötig?

Brügelmann: Ja, viele Leute waren damit beschäftigt, Methoden zu erfinden, wie man Kindern Lesen und Schreiben beibringt. Aber kaum einer hat sich mal in die Lage der Kinder versetzt und gefragt: Wie machen die das eigentlich? Es galt: Du lernst diese Woche diesen Buchstaben, und das Y kommt erst am Ende von Klasse eins dran, auch wenn du Yvonne heißt. Wenn man in das Raster nicht passte, dann war das ein Problem des Kindes und nicht der Schule.

SPIEGEL: Ihr Buch "Kinder auf dem Weg zur Schrift" erschien 1983. Darin beschreiben Sie reformpädagogische Ansätze, mit denen Schule besser funktionieren sollte. Das Buch schlug ein wie eine Bombe - wie kam das?

Brügelmann: Die Zeit war einfach reif dafür. In der Diskussion damals wirkte das Buch wie ein Katalysator. Und an den Beispielen vieler erfolgreicher Lehrerinnen wurde mir klar, dass diese Ideen keine Hirngespinste sind.

SPIEGEL: Ihre eigene Methode zum Lesen- und Schreibenlernen heißt "Spracherfahrungsansatz". Wie genau funktioniert der in der Praxis?

Brügelmann: Eine Grundidee ist, dass die Kinder eingeladen werden, über das zu schreiben, was sie interessiert. Konkret heißt das: Die Erstklässler bekommen eine Anlauttabelle, auf der jedem Buchstaben ein Gegenstand zugeordnet ist, der mit dessen Laut beginnt, etwa zum "B" eine Banane. Wenn sich die Kinder ein Wort vorsprechen, können sie es mit Hilfe der Anlauttabelle auch schreiben - wenn auch meist nicht orthografisch korrekt. Statt Tomate steht dann da am Anfang oft nur "TMT".

SPIEGEL: Und wie wollen Sie so die Rechtschreibung verbessern?

Brügelmann: Um die Rechtschreibung geht es in der Anfangsphase nicht. Die Kinder sollen über das schreiben, was sie selbst erleben, über ihre eigenen Erfahrungen, von Anfang an. Dabei kommen sie anfangs in Konflikt mit den Rechtschreibnormen, weil sie Wörter verwenden, die ihnen niemand je gezeigt hat.


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SPIEGEL: Als Urvater all der verschiedenen Methoden und Schreiblehrgänge, die auf die Anlauttabelle und das sogenannte freie Schreiben setzen, gilt der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Wie wichtig war er für Sie?

Brügelmann: Einerseits war Reichen ein ganz starker Bezugspunkt, der mich sehr in meiner Arbeit ermutigt hat. Andererseits empfand ich ihn als schwierig, teilweise als dogmatisch.

SPIEGEL: Sind Ihnen inzwischen Zweifel gekommen, ob der Spracherfahrungsansatz wirklich dazu taugt, den Kindern Rechtschreibung beizubringen?

Brügelmann: Nein, das nicht, zumal es ja um mehr geht als nur um die Rechtschreibung. Es geht vor allem um selbstständiges Lesen und Schreiben. Aber wenn, wie damals in den Achtzigern, 98 Prozent der Menschen gegen Sie sind, dann heben Sie das hervor, was anders ist als das Herkömmliche. Tatsächlich ist es mir schon lange wichtiger als am Anfang, die Kinder früh mit Rechtschreibung bekannt zu machen.

SPIEGEL: Wie denn?

Brügelmann: So soll die Lehrerin zum Beispiel unter den mit der Anlauttabelle verfassten Kindertext die Übersetzung in Erwachsenenschrift setzen. So können die Kinder vergleichen.

SPIEGEL: Ob sie das tun, ist allerdings die Frage. Ab wann genau werden die Kinder denn beim Spracherfahrungsansatz mit Rechtschreibprinzipien konfrontiert?

Brügelmann: Wie gesagt: von Anfang an, zum Beispiel durch die Begegnung mit Modellwörtern, die gerade im Unterricht wichtig sind und die auch gemeinsam orthografisch korrekt geschrieben werden. Systematisch werden Rechtschreibphänomene ab der zweiten Klasse thematisiert, zum Beispiel in den täglichen Rechtschreibgesprächen. Wörter werden gesammelt und sortiert, die Kinder bekommen gezielte Aufträge zur Überarbeitung ihrer Texte.

SPIEGEL: Ein Jahr lang schreiben die Kinder aber nur nach Gehör. Die falschen Schriftbilder haben sich dann bereits verfestigt, sagen Kritiker, ein völlig falsches Konzept von Schriftsprache hat sich im Kopf festgesetzt.

Brügelmann: Man muss unterscheiden: das lautorientierte "Konstruieren" unbekannter Wörter und das Üben häufiger Wörter nach Vorlage. Nur Letztere prägen sich ein - nach mehrfacher intensiver Wiederholung.

SPIEGEL: Das gilt aber nicht für das falsche Konzept von der deutschen Sprache als lautgetreuer Sprache. Inzwischen deuten einige Studien darauf hin, dass Kinder die Rechtschreibung deutlich besser lernen, wenn sie von Anfang an richtig schreiben müssen.

Brügelmann: Wenn Sie sich die Daten im Einzelnen anschauen, sehen Sie, dass die Ergebnisse je nach Klassenstufe und nach Gruppe sehr unterschiedlich ausfallen. Und am Ende der vierten Klasse bestehen oft kaum mehr Unterschiede.

SPIEGEL: Fast alle Studien zeigen für die Rechtschreibung am Ende der zweiten Klasse einen klaren Nachteil für die Methoden nach Reichen oder ähnliche Methoden. Und dass die Kinder dann bis zum Ende der vierten Klasse wieder aufholen, kann viele Ursachen haben, zum Beispiel auch, dass die beunruhigten Eltern zu Hause mit ihren Kindern üben. Viele Eltern fragen sich inzwischen, wie all diese Verfahren überhaupt in Deutschland eingeführt werden konnten, ohne vorher wissenschaftlich erprobt worden zu sein - das gleicht einem unerlaubten Feldversuch.

Brügelmann: Waren die Fibeln kein Feldversuch? Warum beklagen Sie nicht all die Kinder, die jahrzehntelang im traditionellen Unterricht auf der Strecke geblieben sind?

SPIEGEL: Es gibt aber keine Studie, die zeigt, dass die von Reichen inspirierten Methoden der klassischen Fibel überlegen sind.

Brügelmann: Generell nicht, auch wenn viele Lehrer sehr erfolgreich sind. Aber noch einmal: Unser Spracherfahrungsansatz ist nicht die Methode von Jürgen Reichen - wir haben Reichen in verschiedener Hinsicht bereichert. Und wir haben immer gesagt: Es kommt darauf an, dass die Leistungen nicht schlechter sind. Unter der Voraussetzung hat das pädagogische Prinzip des selbstständigen Lernens für mich Vorrang.

SPIEGEL: Zumindest die Gymnasien erwarten ganz klar, dass die Kinder in der fünften Klasse mit einer mehr oder weniger abgeschlossenen Rechtschreibung ankommen.

Brügelmann: Ja, und das ist ja genau der Vorwurf, den wir den Gymnasien machen. Rechtschreiblernen ist mit Klasse vier nicht abgeschlossen. Die Entwicklungsunterschiede in der Schrifterfahrung betragen am Schulanfang drei bis vier Jahre! Dann ist doch klar, dass viele Kinder über die Grundschule hinaus Unterstützung brauchen, damit sie gern und kompetent lesen und schreiben.

Das Interview führten Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch

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