Studie zu Rechtschreibmethoden "Es gibt viel Leid in den Familien"

Schüler steht bei einem Schreibtest an der Tafel (Symbolbild)
Foto: Jockel Finck/ AP"Unsere Kinder schreiben nicht richtig. Machen wir etwas in unserem Unterricht falsch?" Dieser besorgte Anruf einer Grundschuldirektorin war an der Universität Bonn Anlass für eine neue Studie zum Rechtschreibunterricht.
So berichtet es die Leiterin der Untersuchung, Una Röhr-Sendlmeier. Mit einem Team von Wissenschaftlern untersuchte sie umfassend Rechtschreibleistungen von rund 300 Kindern aus Nordrhein-Westfalen, die mit einer dieser drei Methoden schreiben lernten:
- Systematischer Fibelansatz: Buchstaben und Wörter werden schrittweise und nach festen Vorgaben eingeführt.
- Rechtschreibwerkstatt: Schüler bekommen Materialien, die sie selbstständig in individueller Reihenfolge und ohne zeitliche Vorgaben bearbeiten.
- Lesen durch Schreiben: Schüler schreiben ab der ersten Klasse so, wie sie meinen, dass es richtig ist - oft bis zur dritten Klasse. Korrekturen sind in der Regel nicht vorgesehen.
Das zentrale Ergebnis der Studie: Schüler, die nach der Fibelmethode lernen, machen deutlich weniger Rechtschreibfehler als andere. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und der Präsident der Kultusministerkonferenz, Helmut Holter (Linke), forderten Konsequenzen. Die Ergebnisse müssten "schnell in der Praxis Anwendung finden", sagte Karliczek den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Una Röhr-Sendlmeier ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Bonn.
SPIEGEL ONLINE: Frau Röhr-Sendlmeier, wie erklären Sie sich das Ergebnis der Studie?
Röhr-Sendlmeier: Kinder lernen beim Fibellehrgang sehr strukturiert, und auch Lehrer bekommen klare Vorgaben an die Hand. Das ist der grundsätzliche Unterschied zur Rechtschreibwerkstatt und zu "Lesen durch Schreiben".
SPIEGEL ONLINE: Kann es nicht sein, dass einige Kinder zu Hause einfach besser gefördert werden als andere?
Röhr-Sendlmeier: Diese Tatsache haben wir in unserer Studie gezielt berücksichtigt und in den Auswertungen kontrolliert. Wir haben Vorkenntnisse der Kinder kurz nach der Einschulung erfasst, zum Beispiel, ob sie bei dem Wort Kro-ko-dil erkennen können, dass es drei Silben hat, ob sie den Lautstrom unterteilen und Laute grafischen Symbolen zuordnen können. Das ist ja das Grundprinzip unserer Alphabetschrift. Wir haben festgestellt: Kinder haben sehr unterschiedliche Vorkenntnisse, das wirkt sich bis ins dritte Schuljahr aus. Aber: Die Ungleichheit wird mit der Fibelmethode weitgehend ausgeglichen.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Röhr-Sendlmeier: Schüler, die zu Hause weniger Anregungen bekommen, und Schüler, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind, profitieren sehr von dem strukturierten Lernprinzip und dem Vorgehen vom Einfachen zum Komplexen. Fast alle Kinder, die mit einer Fibel Rechtschreibung gelernt haben, schneiden gut ab. (Mehr zu den Ergebnissen lesen Sie hier.)
SPIEGEL ONLINE: Es gibt aber auch Schüler, die bei den anderen Methoden sehr gute Ergebnisse erzielen. Vielleicht hängt der Lernerfolg auch vom Unterricht insgesamt ab?
Die Studie
Röhr-Sendlmeier: Das ist sicher so. Aber bei der Fibelmethode wird der Unterricht automatisch gut aufgebaut. Bei der Rechtschreibwerkstatt dagegen müssen Materialien nicht zwingend strukturiert eingesetzt werden. Eine solche Materialsammlung kann Lehrkräfte dazu verführen, zu Schülern sagen: "Es sind ja Arbeitsblätter da, nimm dir eins."
SPIEGEL ONLINE: Wenn eine Methode mehr Freiraum lässt, bietet das aber auch Vorteile. Lehrkräfte können zum Beispiel andere Methoden ergänzen und individueller auf Kinder eingehen.
Röhr-Sendlmeier: Es erfordert aber auch besonderes Engagement von ihnen. Es gibt Lehrkräfte, die mit "Lesen durch Schreiben" ausgezeichneten Unterricht machen, wunderbare Schreibanlässe bieten und nebenbei die eine oder andere Regel vermitteln, die Methode also nicht in Reinform umsetzen. Das kann zu sehr guten Ergebnissen führen. Aber wenn dieses Engagement der Lehrkräfte nicht gegeben ist, haben die Kinder nichts, woran sie sich orientieren können.
SPIEGEL ONLINE: "Lesen durch Schreiben" ist schon lange umstritten. Woran hakt es?
Röhr-Sendlmeier: Kinder bekommen dabei eine Tabelle mit Bildern zu den Buchstaben. Bei E sind etwa eine Ente und ein Esel zu sehen. Die Kinder sollen dann "nach Gehör" schreiben, aber viele sind verwirrt, auch weil sie feststellen, dass das E am Anfang dieser beiden Wörter verschieden klingt. Oder das I. Das klingt bei Vieh, Baby, Igel oder ihnen jeweils gleich, wird aber jedes Mal anders geschrieben. Die Alphabetschrift hat sich mit all ihren Regeln und Ausnahmen über einige Hundert Jahre entwickelt. Dass Kinder sich dieses System allein aneignen sollen, ist eine völlige Überforderung.
SPIEGEL ONLINE: Für viele Fachleute ist diese Erkenntnis nicht neu. Einige Bundesländer haben die reine Methode "Lesen durch Schreiben" bereits abgeschafft. Inwiefern ist Ihre Studie bundesweit noch von Bedeutung?
Röhr-Sendlmeier: Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland mit der höchsten Bevölkerungszahl. Hier ist diese Methode ebenso wie die Rechtschreibwerkstatt sehr weit verbreitet. Viele andere Bundesländer sind ebenfalls betroffen. Da stellt sich die Frage nach der Relevanz nicht, zumal sich das Problem in weiterführenden Schulen fortsetzt. Ich habe Anrufe von Eltern bekommen, die sagen: "Mir wird im Gymnasium gesagt, mein Sohn schreibe wie ein Sonderschüler." Es gibt viel Leid in den Familien, weil die Kinder Versagen zurückgemeldet bekommen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie selbst Erfahrungen gesammelt?
Röhr-Sendlmeier: Eltern bekommen bei beiden Methoden die Anweisung, ihre Kinder nicht zu korrigieren. Ich habe ab und an einige Tage hintereinander dennoch ein paar Minuten mit meinen Kindern richtig Schreiben geübt, nur einige Sätze. Das hat bei Bedarf geholfen. Wir haben auch in der Studie festgestellt: Kinder können auch ohne Fibelmethode bei Rechtschreibtests gut abschneiden, wenn Eltern ihnen helfen. Aber: Sie sollten auf keinen Fall Druck aufbauen. Das schadet auch der Leistung.
SPIEGEL ONLINE: Dass Mütter und Väter die Defizite der Schule ausgleichen, kann aber auch nicht die Lösung sein, zumal der Schulerfolg dann umso mehr vom Elternhaus abhängt.
Röhr-Sendlmeier: Genau. Gerade die Kinder, deren Eltern nicht helfen können, fallen hinten runter. Wir hören nach der Iglu-Studie immer wieder, ein bestimmter Anteil der Kinder könne zwar wunderbar lesen und schreiben, aber ein großer Teil eben auch nicht. Das Problem ist, dass in unserem Bildungssystem nicht überprüft werden muss, wie gut Lehrwerke wirken. Schulen können vielmehr relativ frei entscheiden, nach welchen Methoden sie unterrichten.
SPIEGEL ONLINE: Was können Eltern tun, wenn sie mit der Methode nicht einverstanden sind?
Röhr-Sendlmeier: Sie sollten sich artikulieren und sagen: "Wir als Eltern wünschen, dass in den Unterricht Regeln hineinkommen, zum Beispiel durch Einsatz eines modernen Fibellehrwerks."
SPIEGEL ONLINE: Haben Bildungspolitiker aus Ihren Ergebnissen bereits Konsequenzen gezogen?
Röhr-Sendlmeier: Wir haben unsere Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Bildungsministerin das erste Mal vor zwei Monaten zukommen lassen aber bisher noch keine Antwort oder Einladung erhalten. Wir wurden nur aufgefordert, die Ergebnisse allgemeinverständlich in einem Aufsatz für eine Zeitschrift zusammenzufassen, die das Ministerium herausgibt. Mehr nicht.