

Sie tippen LOL, wenn sie etwas lustig, und OMG, wenn sie etwas furchtbar finden. Sie schreiben beim Chatten konsequent klein, und Kommas kosten auch nur Zeit. Die Pessimisten nörgeln schon lange, dass die Jugend von heute kaum noch etwas kann - Rechtschreibung sowieso nicht. Stimmt das?
Um dieser Frage nachzugehen, hat Wolfgang Steinig, Professor für Germanistik an der Uni Siegen, Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten miteinander verglichen. Das Fazit: Schüler machen heute mehr als doppelt so viele Rechtschreibfehler wie vor vierzig Jahren. "Die Ergebnisse sind dramatisch", sagt er.
Vor vierzig Jahren, damals studierte er noch, hatte Steinig einen Film mit einer Super-8-Kamera für einen Unterrichtsversuch gedreht. Drei Jungen nehmen einem Mädchen die Puppe weg, werfen sie sich gegenseitig zu, eine Frau mischt sich ein und rügt die "Lümmel". Das ist die Geschichte, etwa zwei Minuten dauert sie.
Dreimal hat Steinig diesen Film Viertklässlern zeigen lassen, 1972, 2002 und 2012. Jedes Mal hatten die Schüler danach eine Schulstunde Zeit, darüber zu schreiben. Inhaltlich sollten die Lehrer keine Vorgaben machen, ob sie sich daran gehalten haben, konnten Steinig und sein Team nicht überprüfen; denn sie selbst haben das Klassenzimmer nie betreten, um die Schüler nicht zu irritieren, sie hätten dann vielleicht die Ergebnisse verfälscht.
Die Studie ist für Deutschland nicht repräsentativ, denn es haben nur Schüler aus zwei nordrhein-westfälischen Städten teilgenommen. Das Bundesland landet in Rankings meist eher im Mittelfeld, zuletzt beispielsweise beim Grundschulleistungsvergleich, Schüler in Bayern oder Sachsen hätten in den Aufsätzen womöglich besser abgeschnitten. Und trotzdem ist die Studie interessant, schließlich haben die Forscher eine stattliche Datenmenge gesammelt: 1972 haben 254 Schüler von vier verschiedenen Grundschulen teilgenommen, 2002 Jahre waren es 276 Schüler von fünf Schulen und 2012 mehr als 400 Schüler von acht Schulen, die vier Grundschulen vom ersten Jahr beteiligten sich dabei jedes Mal.
Steinig und sein Team analysierten unter anderem, wie die Schüler ihre Texte heute und früher aufgebaut haben, wie sich das Schriftbild verändert hat, wie viele Rechtschreibfehler sie früher gemacht haben, wie viele sie heute machen und wie sich die soziale Herkunft auf die Rechtschreibung auswirkt. Die Aufsätze von 1972 und 2002 haben sie bereits zuvor verglichen und das Resultat in einem Buch veröffentlicht. Die ersten Ergebnisse des Vergleichs 1972 - 2002 - 2012 haben sie bei der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache Mitte März vorgestellt, weitere Ergebnisse sollen folgen. Weil der Rat für deutsche Rechtschreibung die Studie fördert, konzentrierten die Forscher sich zunächst auf die Orthografie.
Die zentralen Ergebnisse:
Besonders der letzte Punkt bereitet Wolfgang Steinig Sorgen: Denn damit zeigt seine Studie wieder einmal, dass es Deutschlands Schulen nicht gelingt, die schwächsten Schüler ausreichend zu fördern. Das bekamen sie zuletzt von den Iglu- und Timss-Studien bescheinigt. "Den schwächeren Schülern müsste man ganz anders helfen, als es bisher geschieht", sagt Steinig. Dabei sei eher unwichtig, ob ein Kind aus einer Zuwandererfamilie komme: "Ein Kind aus einer türkischen Arztfamilie hat normalerweise keine Probleme beim Schreiben", sagt Steinig. Ein deutschsprachiges Kind aus einer Arbeiterfamilie benötige aber meist viel Hilfe.
Und wie lassen sich die Ergebnisse erklären? Zum Teil vermutlich tatsächlich, weil Schüler heute viel und schnell simsen, chatten, mailen - und weil selbst ihre Eltern dabei oft nicht besonders auf die richtige Schreibweise achten. Warum also sollten die Kinder sich anstrengen?
Gleichzeitig tragen aber wohl auch die Lehrer eine Mitschuld: "Viele legen heute mehr Wert aufs Lesen", sagt die Schulforscherin Renate Valtin. Die Professorin gehörte 2006 zum Iglu-Wissenschaftlerteam, das damals auch bundesweit die Rechtschreibung von Grundschülern überprüft hat: In einem Test mit 35 Wörtern schrieben die Kinder im Durchschnitt beinahe die Hälfte falsch - damit waren die Ergebnisse immerhin noch etwas besser als in der ersten Iglu-Studie fünf Jahre zuvor. In vielen Schulen herrsche die Devise: Schreib, wie du sprichst, den Rest lernst du später, sagt Valtin. Offensichtlich ein Trugschluss.
Immerhin, das zeigt Steinigs Studie auch, ist nicht alles schlechter geworden: Die Schüler würden heute oft freier schreiben, kreativer und phantasievoller, viele kommentierten den Film. "Das zeigt, sie sind selbstbewusster und meinungsstärker", sagt Steinig. "Das ist doch auch positiv." Dabei kommt es allerdings vor, dass die Kinder offensichtlich Schulaufsatz und E-Mail verwechseln, so wie diese Schülerin, die schreibt: "der ganze Film war Okey. :-) Schöne Grüße Sarah."
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Der Professor Wolfgang Steinig verglich für eine Studie Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten. Das Ergebnis: Schüler machen heute mehr als doppelt so viele Fehler wie vor vierzig Jahren. "Die Ergebnisse sind dramatisch", sagt der Professor. Mehr...
Heute ist Wolfgang Steinig Professor für Germanistik an der Universität Siegen. Vor 40 Jahren, da war er noch Student, drehte er einen Film mit einer Super-8-Kamera. Den zeigte er Viertklässlern von verschiedenen Schulen in Nordrhein-Westfalen. Einmal 1972, einmal 2002 und einmal im Jahr 2012.
In dem Film setzt sich ein Mädchen mit ihrer Puppe auf eine Bank, und von hinten schleichen sich drei Jungs heran.
Sie nehmen dem Mädchen die Puppe weg und werfen sie sich zu.
Das Mädchen versucht, die Puppe zu fangen.
Dann greift eine Frau ein und hilft dem Mädchen.
Zum Abschied bedankt sich das Mädchen. Der Film dauert insgesamt rund zwei Minuten, anschließend hatten die Kinder eine Schulstunde Zeit, darüber zu schreiben.
Der Professor Wolfgang Steinig verglich für eine Studie Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten. Das Ergebnis: Schüler machen heute mehr als doppelt so viele Fehler wie vor vierzig Jahren. "Die Ergebnisse sind dramatisch", sagt der Professor. Mehr...
Foto: APDer Germanistik-Professor Wolfgang Steinig verglich für eine Studie Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten. Das Ergebnis: Schüler machen heute mehr als doppelt so viele Fehler wie vor vierzig Jahren. "Die Ergebnisse sind dramatisch", sagt der Professor. mehr...
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