Reizüberflutung Wie Kinder zum Zappelphilipp werden

Was denken Babys, was soll ein Kind wann lernen? Viele Eltern rätseln über die richtige Strategie. Entwicklungspsychologin Sabina Pauen spricht im SPIEGEL-ONLINE-Interview über angeborenes Wissen, sinnvolle Frühförderung - und Momente der Ruhe, die für Kleinkinder extrem wichtig sind.

SPIEGEL ONLINE: Wenn ein Baby zur Welt kommt, weiß und denkt es dann schon etwas?

Sabina Pauen: Was genau ein Säugling weiß, wissen wir noch nicht. Aber man hat in den letzten Jahren einige überraschende Erkenntnisse gewonnen. Vieles deutet darauf hin, dass Babys in den Kernbereichen des Wissens wie der Psychologie, der Mathematik und der Physik angeborene Wissensstrukturen haben.

SPIEGEL ONLINE: Welche Anzeichen gibt es für so ein Kernwissen?

Pauen: Verschiedene Experimente zeigen, dass es für Babys zum Beispiel zwei Arten von Dingen auf der Welt gibt: solche, die sich nur anfangen zu bewegen, wenn sie vorher Kontakt zu anderen Dingen hatten. Und solche, die sich von allein bewegen können, die Lebewesen. Es wäre ja denkbar, dass wir auf die Welt kommen und überhaupt keine Ahnung haben, wie sie funktioniert. Nur wäre es dann sehr schwierig und anstrengend, überhaupt Wissen aufzubauen.

SPIEGEL ONLINE: In Ihren Aufsätzen behaupten Sie, dass Babys denken können. Denken vollzieht sich in Sprache, es ist nach Platon das Selbstgespräch der Seele. Wie ist Denken ohne Sprache vorstellbar?

Pauen: Es gibt sprachliches und nicht sprachliches Denken. Wir können die Worte für etwas überhaupt erst finden, wenn zuvor etwas in unserem Kopf abgelaufen ist. Um etwa irgendwann das Wort Hund zu verstehen, muss ein Baby vorher ein paar Exemplare gesehen haben und auch schon eine Vorstellung haben, was diesen Lebewesen gemeinsam ist. Wir fangen nicht an zu denken, wenn die Sprache ins Spiel kommt, sondern wir müssen denken, damit die Sprache erst ins Spiel kommen kann.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es für Eltern, dass ihr Kind bereits ein denkender Mensch ist?

Pauen: Die neuesten Erkenntnisse über das Wissen und Denken von Babys kommen einer Revolution gleich. Diese Grundeinsicht kann sehr viel dazu beitragen, dass man neugieriger und genauer hinschaut: Wo steht mein Kind gerade in seiner Wissensentwicklung, was macht es, was ist der nächste Schritt?

SPIEGEL ONLINE: Viele Eltern zwickt die Angst, sie könnten etwas versäumen, wenn sie ihr Kind nicht optimal fördern. Wie viel Frühförderung ist sinnvoll?

Pauen: Das ist eine heikle Frage. Unsere Grundhaltung zum Kleinkind als lernfähiges und denkendes Wesen ist prägend, das soll sie auch sein. Allerdings verfallen leider sehr viele Eltern in Aktionismus und wollen über das Kind stülpen, was sie in Büchern lesen. Das ergibt wenig Sinn. Wenn man die Extreme nimmt: Ein Kind, das in den ersten sechs Lebensjahren nie mit Musik zu tun hatte, verpasst etwas und kann es auch nicht ohne weiteres später aufholen. Ob es aber entscheidend ist, dass ein Kind drei Instrumente kennen lernt oder nur eins oder Musik nur aus dem Radio hört - das wissen wir nicht. Schädlich ist es auf jeden Fall, wenn Eltern in Panik handeln: Dann sind sie nicht beim Kind, sondern bei ihrer Zielvorstellung, was es für ein Wesen werden soll. Erst wenn Eltern ihre Aufmerksamkeit tatsächlich auf das Kind selbst richten, erkennen sie, was genau in welcher Situation der beste Lernimpuls sein kann.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehr unterscheiden sich Kinder in ihrer Entwicklung?

Pauen: Manche Kinder krabbeln zum Beispiel nie, sondern überspringen diese Stufe und fangen einfach an zu laufen. Aber allgemein sind die Stufen in ihrer Abfolge recht stabil. Es ist viel wichtiger zu wissen, welche Schritte aufeinander folgen, als wann Kinder was können müssen. Diese Schritte sind meistens logisch aufeinander aufgebaut. So haben Babys ganz früh den Greifreflex, der irgendwann nachlässt. Später lernt das Kind, den Daumen unabhängig von den anderen Fingern zu benutzen und zu grabschen, dann kann es die Finger einzeln steuern und wie eine Pinzette benutzen - und nun erst kann es kleine Perlen oder Haare aufheben. Diese Abfolge ist fix, Babys fangen nicht mit dem Pinzettengriff an.

SPIEGEL ONLINE: Oft geht es Eltern um Fähigkeiten, die das Kind später voranbringen sollen - etwa eine Fremdsprache. Sie haben geschrieben, das Hirn sei ab dem zweiten Lebensjahr optimal darauf vorbereitet, Sprachen zu lernen. Sollen Kinder dann wirklich schon mit Fremdsprachen anfangen?

Pauen: Lange hat man gedacht, dass Kinder langsamer sprechen lernen, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Das ist mittlerweile vom Tisch. Lernen Kinder ganz intensiv eine zweite Sprache, baut sich das Sprachzentrum anders auf. Damit meine ich aber nicht Kurse von einer Stunde pro Woche, sondern tägliches Sprechen. Kinder, die zweisprachig aufwachsen, sind oft Menschen, die später zum Beispiel Simultandolmetscher werden können. Sie haben ein für beide Sprachen zuständiges neuronales Netz entwickelt. Lernt man die zweite Sprache später, wird ein zweites neuronales Netz angelegt, so dass das Tempo der Übersetzung langsamer ist. Dennoch lässt sich eine Zweitsprache auch später sehr gut lernen.

SPIEGEL ONLINE: Es ist oft von der Reizflut die Rede, die heute auf Kleinkinder einprasselt: Überall flimmert und bimmelt was. Wann wird das zu viel?

"Wer Kinder fördern will, braucht Zeit für sie"

Pauen: Es ist zu vermuten, dass Reizüberflutung nachhaltige Konsequenzen hat. Wir werden geboren mit einem vom Stammhirn gesteuerten Aufmerksamkeitssystem. Es lenkt unsere Blicke dahin, wo etwas passiert. Aber ein weiteres Aufmerksamkeitssystem wird vom Frontalhirn gesteuert. Damit entscheiden wir selbst, wann und wie wir uns mit etwas auseinandersetzen möchten. Eine Umwelt, die permanent das erste System anspricht, weil immer etwas Geräusche macht oder sich bewegt, stützt diese Art der Steuerung sehr stark. Das Verrückte ist, dass unsere Welt uns zum Zappelphilipp macht, zugleich aber von uns verlangt wird, dass wir uns konzentrieren und mit einzelnen Dingen lange und intensiv beschäftigen sollen. Das passt nicht zusammen. Ganz sicher findet man heute mehr Kinder als früher, denen schnell langweilig wird, wenn keine Reize von außen kommen. Das ist schon ein Alarmzeichen.

SPIEGEL ONLINE: Was können Eltern tun?

Pauen: Momente der Stille sind extrem wichtig, in denen sich Kinder selbst aussuchen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten. Diese Momente kann es natürlich in der Wiege geben, aber das ist kein Vergleich damit, unter einem Baum zu liegen, wenn der Wind ein paar Blätter bewegt oder ein Vogel kommt und wieder wegzwitschert.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es für die Entwicklung, wenn solche Momente rar sind oder gar nicht vorkommen?

Pauen: Auf der einen Seite ein hohes Tempo und eine hohe Flexibilität, mit Dingen sehr schnell umzugehen. Das sind ja schon jetzt Anforderungen an unsere Generation, wir können das sicher tausendmal besser als unsere Eltern und Großeltern. Aber es ist auch ein Verlust: Die Zeiten der Muße und Ruhe, in denen Ideen wachsen können, fehlen, weil viele gar nicht mehr gelernt haben, damit etwas anfangen zu können.

SPIEGEL ONLINE: Sie zitieren in Ihren Aufsätzen Studien, wonach Investitionen in die Kinderbetreuung den IQ der Kinder steigern können. Kommt das nicht einem Kindertuning gleich und schürt den Eltern-Aktionismus?

Pauen: Die Gefahr besteht, sicher. Die Studien machen aber etwas anderes deutlich: Wenn sich niemand um Kleinkinder kümmert, haben sie einen Entwicklungsnachteil. Es ist nicht so, dass das Kind intelligenter wird, wenn ich möglichst viel mit ihm veranstalte. Aber wenn ich zu wenig mache, schade ich der Entwicklung. Deshalb ist es sehr wichtig, dass alle Kinder in den ersten Lebensjahren ein Minimalangebot bekommen. Damit ist nicht gemeint, dass Eltern zu möglichst vielen Babykursen rennen sollen.

SPIEGEL ONLINE: Wenn die ersten Jahre eines Kindes so wichtig sind, wird von den Eltern mehr Wissen verlangt, was das Kind braucht in diesen Phasen. Bedeutet das, Kinder in bildungsfernen Familien sind von der Geburt an benachteiligt?

Pauen: Das ist die traurige Wahrheit. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass es gute institutionelle Angebote gibt. Die Adressaten meiner Veröffentlichungen sind auch nicht nur die sogenannten Bildungsbürger. Wobei: Man kann sehr schlau sein und zugleich sehr ignorant, was die Entwicklung der Kinder angeht - wenn man stark mit sich und seiner Arbeit beschäftigt ist und das Kind nicht mehr sieht. Da kann es genauso zu Benachteiligung kommen. Wer Kinder fördern will, braucht Zeit für sie.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben selbst zwei Töchter. Wie viele Ratgeber haben Sie gelesen, als ihre Kinder klein waren?

Pauen: Ganz ehrlich? Keinen einzigen. Ich habe schon viel über kleinkindliche Entwicklung gelesen, aber Rat braucht man nicht unbedingt, sondern vor allem Neugier und Spaß am Kind. Der Rest ergibt sich.

Das Interview führte Birger Menke

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