Religionsunterricht "Schüler sollen sich eigene Urteile bilden"

Beim Islamunterricht geht es seit Jahren nicht voran. Lamya Kaddor lehrt in Dinslaken Religionskunde. Im Interview spricht die Pädagogin über Koranschulen, Gebete im Unterricht, liberale und konservative Muslime sowie Verhaltensregeln für Jugendliche.

SPIEGEL ONLINE: Frau Kaddor, was spricht aus Ihrer Sicht für islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland?

Lamya Kaddor: Der wichtigste Grund ist, dass die Schüler in einem guten Unterricht nicht nur Faktenwissen über ihre Religion vermittelt bekommen. Sie sollen darüber hinaus lernen, selbständig und auch kritisch mit diesem Wissen umzugehen und sich eigene Urteile darüber zu bilden, was in ihrem Glauben wichtig ist und was weniger wichtig ist.

SPIEGEL ONLINE: Woher bekommen die Schüler denn sonst ihre Informationen über den Islam?

Kaddor: In erster Linie natürlich vom Elternhaus, wie wir alle. Und dann natürlich aus der Moschee. Bei meinen Schülern sind das meist türkische Moscheen, in denen dann sogenannte Koranschulen stattfinden.

SPIEGEL ONLINE: Und da wird häufig ein eher konservatives Bild des Islam vermittelt?

Kaddor: In der Regel ja. Die meisten Moscheevereine sind sehr konservativ, es gibt nur relativ wenige Gemeinden, die ein liberales Glaubensverständnis pflegen. Der Unterricht in diesen konservativen Koranschulen sieht dann so aus, dass ich einen Koran in arabischer Schrift vor mir liegen habe und der Hodscha, also der Lehrer, bringt mir bei, wie ich den arabischen Text lesen muss.

SPIEGEL ONLINE: Was die Verse bedeuten sollen, sagt der Hodscha nicht?

Kaddor: In der Koranschule nur sehr selten. Die konservative Auslegung des Textes kriegen die Schüler dann in der Predigt mit oder durch Extrastunden in der Moscheegemeinde am Nachmittag oder in Ferienkursen, in denen islamischer Religionsunterricht in türkischer oder arabischer Sprache durchgeführt wird.

SPIEGEL ONLINE: Die Kultusminister in den Ländern sagen zum Teil schon seit Jahrzehnten, dass der Staat die Aufgabe hat, islamischen Religionsunterricht nach überprüfbaren pädagogischen und inhaltlichen Standards an öffentlichen Schulen anzubieten. Aber passiert ist außer ein paar Modellversuchen nicht viel. Woran liegt das?

Kaddor: Das liegt an beiden Seiten. Die Bundesländer sagen: Wir haben noch keinen Ansprechpartner auf muslimischer Seite gefunden, der uns gefällt und der die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, eine anerkannte Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes zu sein. Und die großen islamischen Verbände sagen: Wir sind doch keine Kirche im institutionalisierten Sinn und wollen das auch nicht sein, aber wir wollen trotzdem rechtlich so wie die katholische und evangelische Kirche behandelt werden und die Glaubensinhalte für den islamischen Religionsunterricht festlegen. Und weil das seit vielen Jahren von beiden Seiten immer so hin- und hergespielt wird, ist außer vielen Absichtserklärungen leider nichts passiert.

SPIEGEL ONLINE: In einigen Bundesländern setzt sich die Erkenntnis durch, dass man als Übergangslösung ja schon mal anfangen könnte mit dem islamischen Religionsunterricht, auch wenn es noch keine formal anerkannte islamische Religionsgemeinschaft gibt. Halten Sie das für eine gute Lösung?

Kaddor: Es ist leider wohl das einzige, was man jetzt kurzfristig machen kann. Ich persönlich habe große Probleme mit der überwiegend konservativen Islam-Auslegung, die von den meisten Dachverbänden in Deutschland betrieben wird; ähnliche Magenschmerzen hätte ich übrigens auch, wenn die katholische Kirche heute noch mal an den Start gehen müsste. Deshalb sollten die Unterrichtsinhalte nicht von den Islamverbänden allein festgelegt werden, sondern von einer Art rundem Tisch, an dem auch Elternvertreter, Islamwissenschaftler und Vertreter einer liberaleren Islamauslegung sitzen.

SPIEGEL ONLINE: Sie selbst sind Lehrerin im Modellversuch für islamische Religionskunde in Nordrhein-Westfalen. Wie unterscheidet sich Ihr Unterricht denn von echtem Religionsunterricht, wie ihn die islamischen Verbände fordern?

Kaddor: Inhaltlich ist da gar kein so großer Unterschied. Für echten Religionsuntericht müsste ich im Unterricht ein paar didaktische Herangehensweisen und Formulierungen ändern, weil ich dann "zum Glauben hin erziehen" dürfte. Ich würde dann zum Beispiel sagen: Wir Muslime sind verpflichtet, 30 Tage im Ramadan zu beten. Jetzt sage ich: Die Muslime sind verpflichtet, 30 Tage im Ramadan zu beten. Außerdem würde ich dann auch mal ein Gebet einüben, was ich jetzt nicht tue. Wichtiger ist aber die Änderung im rechtlichen Status. Jetzt haben wir nur einen Schulversuch an ausgesuchten Schulen. Ein regulärer Religionsunterricht könnte an allen Schulen angeboten werden, in denen es muslimische Schüler gibt.

SPIEGEL ONLINE: Was empfehlen Sie zum Beispiel in Ihrem Unterricht Schülerinnen, wenn sie von Ihnen wissen wollen, ob sie auch einen Nicht-Muslim zum Freund haben dürfen?

Kaddor: Das ist ja dann schon die zweite Stufe. Vorher kommt meistens schon die Frage: Darf ich überhaupt vor der Ehe schon einen Freund oder eine Freundin haben? Ich sage dann, dass der Koran nicht verlangt, auf eine enge Freundschaft zu Angehörigen des anderen Geschlechts zu verzichten. Der Koran verlangt nur, dass es keinen Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe geben darf. Ich sage dann zwar auch, dass viele Islamgelehrte meinen, der Sprung von einer Liebesbeziehung zu einer intimen Beziehung sei so klein, dass man der vorehelichen Freundschaft besser entsagen sollte. Dass heißt aber nicht, dass der Koran eine enge Freundschaft vor der Ehe verbieten würde. Alles Weitergehende liegt letztlich in der Verantwortung der Schüler, sofern sie alt genug sind, ihr Verhalten selbst zu reflektieren. Andernfalls liegt es natürlich in der Verantwortung der Erziehungsberechtigten. Von mir bekommen die Schüler jedenfalls weder einen Freibrief noch irgendwelche Sanktionen angedroht. Von mir erhalten sie vor allem eines - Informationen.

SPIEGEL ONLINE: Beklagen sich Ihre Schüler manchmal darüber, dass sie das von ihren Eltern oder ihrem Prediger aber ganz anders gehört haben?

Kaddor: Manche Schüler bekommen von ihren Eltern, der Moschee oder irgendwoher wirklich absurde Verhaltensregeln erzählt. Kürzlich wollte ein Schüler von mir wissen, ob es richtig ist, dass im Islam das Kaugummikauen verboten sei. Solche verqueren Denkweisen auszuräumen, wäre auch eine wichtige Aufgabe eines islamischen Religionsunterrichts.

Das Ínterview führte SPIEGEL-Redakteur Matthias Bartsch

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