Russischzwang an Gymnasien "Da flossen erst mal die Tränen"

Sie wollten Französisch lernen, stattdessen müssen sie bald Russisch-Vokabeln pauken: Etliche sächsische Gymnasiasten werden im neuen Schuljahr zum Russischunterricht gezwungen. Das kennen ihre Eltern noch aus der DDR - und laufen Sturm gegen die Regel. Ausrichten können sie aber wenig.
Zweite Fremdsprache, aber kein Recht auf Sprachwahl: Sachsens Schüler sagen Njet

Zweite Fremdsprache, aber kein Recht auf Sprachwahl: Sachsens Schüler sagen Njet

Foto: Julian Stratenschulte/ dpa

So hatten sich Marleen* und ihre Eltern das eigentlich nicht vorgestellt: Als die heute 10-Jährige vor einem Jahr am Radebeuler Lößnitzgymnasium angemeldet wurde, hatte ihre Mutter Claudia als zweiten Fremdsprachenwunsch Französisch angegeben. Doch ein Recht auf freie Wahl der zweiten Fremdsprache, das musste die Familie jetzt lernen, gibt es nicht: "Als vor einigen Wochen die zweite Sprache ab Klasse sechs gewählt werden sollte, gab es für die Russisch-Gruppe nicht genügend Interessenten", erzählt die Mutter. 21 Schüler hatten sich für den Kyrillisch-Unterricht gemeldet, mindestens 25 müssen es aber sein. "Deshalb wurden die restlichen vier Plätze verlost - unter denen, die gar kein Russisch lernen wollten."

Marleen hatte Pech: Sie gehört zu den unglücklichen Gewinnerinnen dieser Lotterie, die nach den Sommerferien gegen ihren Willen in den Russisch-Unterricht müssen. "Da flossen erst mal die Tränen", erzählt ihre Mutter, schließlich wird die Tochter jetzt in eine andere Klasse gesteckt und von ihren bisherigen Schulfreundinnen getrennt. "Schrecklich" findet sie das, und Mutter Claudia kann es "immer noch nicht richtig fassen, dass so etwas möglich ist".

Die Familie stammt ursprünglich aus Baden-Württemberg, Claudia hat selbst in Frankreich studiert "und meine Töchter immer darauf vorbereitet, irgendwann auch diese Sprache zu lernen" - so wie es die ältere Schwester von Marleen schon seit zwei Jahren kann. Aber auch das war in den Verhandlungen mit der Schulleitung kein Argument, das zählte.

Russisch-Zwang wie in der DDR?

Die Radebeuler Familie ist nicht die einzige, die zum neuen Schuljahr die Zwangszuweisung für eine nicht gewollte Fremdsprache erlebt. An mindestens 25 Gymnasien in Sachsen gibt es derzeit eine ähnliche Situation: Weil bestimmte Sprachen nicht oft genug gewählt werden, entscheidet das Los. Alleine im Dresdner Bertolt-Brecht-Gymnasium sind aktuell zwölf Schüler betroffen, die nach den Ferien in die sechste Klasse kommen. Wenn sie das Abitur machen wollen, stehen ihnen mindestens vier Jahre Russisch gegen ihren Willen bevor.

Wie solle man Vätern und Müttern, die unter der mangelnden Freiheit in der DDR gelitten hätten, vermitteln, "dass nun ihr Kind zwangsweise dem Russischunterricht zugeteilt wird?", fragte Carsten Guse, Elternsprecher der Schule, in der "Sächsischen Zeitung". Etliche Eltern seien damals selbst zum Russischlernen gezwungen worden - eine ungute Parallele.

"Ich kann die Enttäuschung der betroffenen Eltern verstehen", sagt Andrea Valendiek, Pressesprecherin im sächsischen Kultusministerium. Viele Eltern hätten schließlich eine Biografie, bei der beim Thema Russischlernen Emotionen hochkämen. "Aber so hart es auch klingen mag: Es gibt keinen Rechtsanspruch bei der zweiten Fremdsprache", sagt Valendiek. Französisch werde zwar häufiger als Russisch gewählt, aber das Land wolle die Vielfalt der Fremdsprachen weiterhin erhalten. So müsse man eben die Balance finden zwischen den Wünschen der Familien und der Zahl der vorhandenen Fachlehrer. "Wenn es dann im Einzelfall einmal nicht passt, ist das Losverfahren immer nur das allerletzte Mittel, um eine gewisse Chancengleichheit gewähren zu können", sagt sie.

Ein Zustand, mit dem sich zahlreiche betroffene Eltern nicht abfinden wollten. Sie wandten sich an den Petitionsausschuss des Landtags - und handelten sich eine harsche Abfuhr ein: Die Schulordnung der Gymnasien sehe zwar eine zweite Fremdsprache nach Englisch vor, aber eben keine Sprachwahl. "Ein Rechtsanspruch auf Erteilung von Unterricht in einer bestimmten Fremdsprache besteht nicht", beschloss der Landtag deshalb Ende April. Es klang wie ein Echo der vorherigen Erklärungen des Kultusministeriums. Mindestens ein Vater allerdings will sich damit nicht abspeisen lassen und hat angekündigt, gegen den Russischzwang für seinen Sohn zu klagen.

Auch bei Härtefällen heißt es "njet"

"Auf die Schnelle ist das nicht zu lösen", sagt der Dresdner Elternvertreter Thomas Duckert. Betroffene Familien hätten im Moment kaum eine andere Chance, als sich mit der ungewollten zweiten Sprache zu arrangieren. Nicht einmal echte Härtefälle werden berücksichtigt, erzählt Duckert, - so wie die Dresdner Familie, bei der schon klar ist, dass sie in zwei Jahren aus beruflichen Gründen nach Stuttgart ziehen wird. "Da gibt es gar keine Gymnasien mit Russisch-Angebot, die Tochter wird also ihre Schulkarriere nur an der Realschule fortsetzen können", sagt Thomas Duckert. Doch nicht einmal in diesem Fall ließ sich die zuständige Schulleitung erweichen.

Und geradezu bizarr ist die Situation in Dresdens Nachbarstadt Radebeul. Während am Lößnitzgymnasium vier Schülerinnen zu Russisch gezwungen werden sollen, ist es am gerade mal 1,3 Kilometer entfernten Gymnasium Luisenstift genau anders herum: Da fehlten vier Kinder in einem Französischkurs - und auch hier wurden die Plätze per Zwangsverlosung gefüllt. "Wir hoffen jetzt, dass wir vielleicht tauschen können", sagt Marleens Mutter Claudia. "Das wäre das kleinere Übel." Aber eigentlich, sagt die 40-Jährige, habe sie resigniert: "Die Kinder und ihre Wünsche spielen offenbar überhaupt keine Rolle."

* Name von der Redaktion geändert

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