Schachschule unter Zugzwang Das Ströbecker Bauernopfer
Dass der Besucher sich einem ganz besonderen Flecken nähert, erfährt er bereits am Ortseingangsschild - "Schachdorf Ströbeck, Landkreis Halberstadt" steht darauf. Im 1200-Seelen-Nest in Sachsen-Anhalt dreht sich alles um Schach, und darauf ist man offenkundig mächtig stolz. Indizien dafür finden sich in Ströbeck überall: Dort logiert Deutschlands einziges Schachmuseum, das Wahrzeichen heißt Schachturm, den Dorfkern bildet der "Platz zum Schachspiel" inmitten von Fachwerkhäusern.
Für jeden Ströbecker sei das Schachspiel "Pflicht und Auszeichnung", finden die Einwohner, die auch "Stumpeldubn" genannt werden. Gern treten sie beispielsweise - schon seit dem 17. Jahrhundert - zum "Lebendschach" an, bei dem Mitglieder des Schachvereins in prächtigen Kostümen die Spielfiguren darstellen. Selbst auf der Kirchturmspitze dreht sich nicht etwa ein Kupferhahn, sondern ein Wetterfähnlein mit vergoldetem Schachbrett im Wind. Und wer nur akustisch überzeugt werden kann, dem singen die Ströbecker notfalls ihr "Lied vom Schachspiel" mit Strophen von unfassbarer Eleganz. Und mit feinen Reimen, die, nun ja, nur ein bisschen rumpeln.
Eltern blasen zum Bauernaufstand
Eines allerdings trübt derzeit die Dorfidylle gewaltig: Die Schachschule, seit 181 Jahren Ströbecks Stolz, soll geschlossen werden. Das Kultusministerium von Sachsen-Anhalt hat kürzlich die Ausnahmegenehmigung für den Fortbestand verweigert, weil die Schülerzahlen sinken und nicht mehr für die geforderte Zweizügigkeit reichen. "Pro Jahrgang müssen in zwei Klassen mindestens 40 Schüler sein", sagt Susanne Heizmann, Sprecherin der Elterninitiative, "das können wir nicht erreichen. Es gibt einfach nicht mehr genügend Schüler."
Dem beschaulichen Örtchen im Harzvorland geht es damit nicht anders als etlichen anderen ostdeutschen Gemeinden, die im ländlichen Raum unter Schülerschwund leiden und die Schließung ihrer Schulen befürchten. Im brandenburgischen Heckelberg-Brunow etwa erwischte es im vergangenen Jahr eine Dorfschule, nachdem sich ebenfalls weniger als 40 Schüler für die siebte Klasse angemeldet hatten. Einige Eltern traten daraufhin sogar in einen Hungerstreik, und das Dorf köderte neue Schüler mit einer Art Kopfgeld. Doch das reichte nicht, das Schulministerium kannte kein Pardon.
Ein ähnliches Schicksal könnte nun auch Ströbeck, als einziger deutscher Ort Mitglied in der "Vereinigung Kultureller Dörfer Europas", schon im Sommer ereilen. "Eins steht fest: Das werden wir uns nicht gefallen lassen. Wir werden kämpfen", sagte Susanne Heizmann. Die empörten Eltern bangen um die "kulturhistorische Tradition" und um die Zukunft des Ortes. Gemeinsam suchen sie jetzt nach einer guten Verteidigung und entwickeln einen "Schlachtplan" mit Demonstrationen und anderen Protestaktionen, um das Aus zu verhindern. Zudem kündigte Bürgermeister Rudi Krosch an, rechtliche Schritte zu prüfen. Nach seinen Angaben steht Schach in 30 Ländern als reguläres Fach im Lehrplan: "Dass wir diese Einmaligkeit in Deutschland nun wegen einiger fehlender Kinder abschaffen, ist nicht einzusehen."
Matt nach 181 Zügen?
Sachsen-Anhalts Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz indes macht den besorgten Eltern wenig Hoffnung und sieht für die Dr.-Emanuel-Lasker-Schule keine Zukunft, zumal Schach kein von der Kultusministerkonferenz bestätigtes Schulfach sei. Die Verantwortung für die Schulstandorte liege bei den Landkreisen, die sich an vom Land vorgegebenen Mindestgrößen orientieren müssten, sagte der parteilose Politiker: "Ausnahmen sind nur dort möglich, wo die Schulwege unzumutbar lang sind" - in Ströbeck lägen aber andere Schulen in der Nähe.
Die Schule ist benannt nach Emanuel Lasker, promovierter Mathematiker und Publizist und von 1894 bis 1921 Weltmeister. Schach ist dort Pflicht für alle und wird auch benotet, zählt aber nicht für die Versetzung. Bereits im vergangenen Jahr drohte der Dorfschule die Schließung, doch dann schickten Eltern aus dem benachbarten Derenburg ihre Kinder zur Rettung nach Ströbeck. Dieses Jahr sieht es noch schlechter aus. "Wenn die Schule untergeht, hängt das ganze Dorf da dran, von der langen Tradition würde fast nichts mehr übrig bleiben", argumentiert Susanne Heizmann.
Der erste Beleg, dass Schach an der Schule unterrichtet und geprüft wurde, stammt aus dem Jahre 1823, als der Landrat drei Reichsthaler für die sechs besten Schachspieler der oberen Klassen bereitstellte. Die Gemeinde verteilte das Geld jedoch nicht an die Schüler, sondern kaufte damit Schachbretter. Die Ströbecker Schachtradition reicht aber viel weiter zurück - bis ins 11. Jahrhundert. Der Überlieferung zufolge langweilte sich ein adliger Gefangener im Wehrturm und brachte den Bauern, die ihn reihum bewachen sollten, das Spiel bei. Nach der Freilassung sorgte der Graf dafür, dass die Bürger weniger Abgaben zahlen mussten. Dafür versprachen ihm seine Bewacher, das Spiel stets zu pflegen und von Generation zu Generation weiterzugeben.
Also geschah es. Bis heute sorgt die Schule für Schach-Nachwuchs und bringt den Schülern Grundregeln, Strategie, Eröffnungsvarianten, Schachgeschichte bei. Sie rühmt die positiven Auswirkungen auf Konzentration und logisches Denkvermögen. Erstklässler beginnen als "Bauern" und können sich nach Jahren zu "König" oder "Dame" beim Lebendschach hochdienen.
Der Kultusminister aber scheint bis dato gegen die Dorf-Folklore immun, der Sekundarschule droht zum Schuljahresende ein Matt nach 181 Zügen. Sollte die Partie tatsächlich verloren gehen, ist von Schachlegende Emanuel Lasker immerhin ein tröstendes Wort überliefert: "Im Leben werden Partien nie so unstrittig gewonnen wie im Spiel; das Spiel gibt uns Genugtuungen, die das Leben versagt."