Schülerin über Politik "In der Schule lernt man keine Haltung - man lernt auswendig"

Schülerin Jette: "Ich würde gern im Politikunterricht mehr über laufende Debatten diskutieren"
Foto: SPIEGEL ONLINENatürlich interessiert mich die Griechenlandkrise, alle reden ja darüber. Im Moment google ich das Thema viel und lese mehrere Artikel dazu. Was ist ein Grexit, kommt er jetzt, und wenn nicht, warum nicht? Das möchte ich schon wissen.
Aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer, das Chaos um Griechenland richtig zu verstehen. Dabei bin ich ziemlich gut informiert. Eine Zeitung oder ein Magazin lese ich zwar nicht, dafür hätte ich gar keine Zeit. Aber bei mir zu Hause wird öfter über Politik geredet, zum Beispiel beim Abendessen. Viele Nachrichten erfahre ich aus dem Radio und aus der Tagesschau. Und ich mag politische Talkshows.
Das Problem ist, dass Politiker öffentlich mit Halbwahrheiten arbeiten müssen, sonst wird das Verhandeln ja noch komplizierter. So ist es auch mit Griechenland. Das ist bestimmt wichtig, macht es Normalbürgern aber unmöglich, die Lage wirklich nachvollziehen zu können.
Wenn ich höre, dass die Kanzlerin in Brüssel 17 Stunden durchverhandelt hat, dann denke ich nur: Das ist doch Folter. Ich bewundere schon, dass Merkel und Schäuble so eine große Verantwortung tragen. Trotzdem fühlt sich das Ringen um den Euro irgendwie fern an.
In der Schule lernt man auswendig
Ohne den Ansporn meiner Eltern würde ich mich wohl selten über aktuelle Ereignisse informieren. Und ich würde mehr Probleme haben, mir eine eigene Meinung zu bilden. Denn in der Schule lernt man nicht, eine eigene Haltung anzunehmen. Dort lernt man auswendig.
Ich würde gern im Politikunterricht mehr über laufende Debatten diskutieren und mehr darüber erfahren, wie unser Staat genau funktioniert, wie eine Wahl abläuft. Wie werden die Sitze genau verteilt, wie läuft das mit der Europawahl ab? Und sind Wahlen überhaupt repräsentativ? Leute mit niedrigem Bildungsstand oder Einkommen gehen ja meist weniger wählen - also wählen zum größten Teil der Mittelstand und die Oberschicht?
Im Geografie-Unterricht haben wir immerhin über die Ukrainekrise gesprochen. In solchen Momenten wünsche ich mir noch mehr Aktuelles, das auch in die Tiefe geht. Ich finde, nicht nur die Eltern, sondern auch die Schule sollte Jugendliche über unser politisches System aufklären.
Zugeben, dass man Mist gebaut hat
Ich glaube, dass Politik für viele Menschen in Deutschland früher wichtiger war als heute. Vielleicht liegt das daran, dass die Leute nach dem Mauerfall zum großen Teil das erste Mal das Gefühl hatten, gemeinsam in einer Demokratie zu leben. Heutzutage ist das selbstverständlicher.
Ich bin dankbar dafür, dass es das Recht auf freie Meinungsäußerung gibt. Ich könnte mir jederzeit mein Telefon schnappen und ein Video auf YouTube hochladen, wenn ich möchte. Aber viele Leute in meinem Alter äußern ihre Meinung gar nicht. Manchmal haben sie nicht einmal eine.
Schuld daran ist auch die Politik. Je intensiver ich Nachrichten verfolge, desto mehr kommen mir Politiker wie gescheiterte Schauspieler vor. Jeder Mensch lügt, bei Politikern gehört das zum Beruf. Sie müssen vieles für sich behalten, dürfen vor der Kamera nicht alles sagen. Dabei fände ich es gut, wenn Politiker mehr Fehler einräumen. Bei Griechenland wurden bestimmt eine Menge gemacht, auf beiden Seiten. Einfach mal zugeben, dass man Mist gebaut hat, das würde schon viel helfen, damit man Politikern mehr vertraut.
Parteiprogramme finde ich auch nicht glaubwürdig. Ich gehe in Bremen zur Schule, mache bald Abitur. Wir haben noch immer so viel Unterrichtsausfall wie früher. Das Einzige, was sich ändert, sind die Schulsysteme. Mal gibt es das Abi nach zwölf, mal nach 13 Jahren.
Als ob uns unsere Großeltern regieren
Aus meiner Sicht verstehen die meisten Politiker junge Menschen nicht. Nur weil sie ein iPhone haben, sind sie noch längst nicht modern. Es reicht auch nicht, Busse und Bahnen mit W-Lan versorgen zu wollen. Und dass die Bundesregierung eine Facebook-Seite hat, ist schön für sie. 100.000 Follower sind aber nicht gerade viel. Ich folge dort keinem Politiker und habe das auch nicht vor.
Die Jugend ist bunt, ich kann das sagen, ich gehöre dazu. Wir sind eine tolerante, offene Generation, teilweise gibt es an meiner Schule mehr Kinder mit Migrationshintergrund in den Klassen als in Deutschland geborene. Für Leute in meinem Alter spielt das keine so große Rolle.
Auch nicht, ob jemand schwul oder lesbisch ist. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Homosexuelle nicht dieselben Rechte haben wie Heterosexuelle. Bei solchen Fragen habe ich das Gefühl, dass uns unsere Großeltern regieren.
Ich finde es schwierig, neben dem ganzen Schulkram, den persönlichen Problemen und Verpflichtungen sich einem politischen Alltag anzunähern, der einem fremd ist. Wählen gehen werde ich trotzdem, eine abgegebene Stimme ist besser als keine.
Aber ich wüsste darüber hinaus nicht, wie ich mich sonst einbringen sollte. Infostände mit Flyern und Sonnenschirm geben mir nichts. Da nehme ich höchstens mal einen Kugelschreiber mit. Einer Partei beitreten will ich auch nicht. Bis ich da konkret etwas umsetzen dürfte, ist doch die nächste Generation nachgewachsen, mit eigenen Bedürfnissen.

Jette, Jahrgang 1998, besucht die 11. Klasse der Oberschule Findorff in Bremen. Sie beschäftigt sich gern mit kreativen Aufgaben wie Zeichnen, Lesen oder Musik. Seit zehn Jahren spielt sie Klavier, mit ihrem Bruder und seinen Freunden hat sie eine Band gegründet. Ansonsten mag sie Sport, zum Beispiel Inline-Skating. In dieser Woche ist Jette als Schülerpraktikantin im Hauptstadtbüro von SPIEGEL ONLINE zu Besuch.