Schulboykott einer Großfamilie Bibelverse statt Sexualkunde
Am Donnerstag erschienen Michael und Sigrid Bauer mit allen acht Kindern zum Vehandlungsbeginn vor dem Landgericht Gießen. Das streng religiöse Ehepaar aus dem hessischen Vogelsberg weigert sich seit über zwei Jahren, die Kinder zur Schule zu schicken, und unterrichtet sie selbst zuhause - ausgerechnet in der Schulgasse.
Michael Bauer, 37, lehnt staatliche Schulen generell ab und hält manche Lehrinhalte schlicht für Teufelszeug. Christliche Erziehungsgrundsätze wie Schamhaftigkeit und Gehorsam gegenüber den Eltern würden von öffentlichen Schulen "unterwandert", glaubt der Familienvater: "Das durchzieht das ganze Schulsystem."
Nun stehen Michael und Sigrid Bauer bereits zum zweiten Mal vor Gericht und müssen sich rechtfertigen, weil sie der Schulpflicht für fünf schulpflichtige Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren nicht nachkommen. Im Juni 2001 hatten die Angeklagten die drei Töchter und beiden Söhne aus ihren Schulen abgemeldet und dann an der Philadelphia-Schule in Siegen wieder angemeldet. Dabei handelt es sich allerdings um eine staatlich nicht anerkannte Heimschule nach amerikanischem Vorbild.
Für das hessische Kultusministerium ist die Sache klar: Die Schulpflicht gilt für alle Kinder und Jugendlichen, Heimunterricht ist in Deutschland nicht zulässig. Deshalb stellte das staatliche Schulamt im Oktober 2001 Strafantrag gegen die Eltern.
Die Welt, wie die Bauers sie sehen
Doch in erster Instanz hatte das Amtsgericht Alsfeld überraschend anders entschieden. Die Eltern hätten ihre Kinder zwar "wissentlich und wollentlich" der Schulpflicht entzogen, aber dennoch nicht schuldhaft gehandelt, heißt es im Alsfelder Urteil vom April. Der Richter konstatierte eine "Pflichtenkollision" zwischen gesetzlicher Schulpflicht einerseits und starkem Glauben andererseits. Die Angeklagten hätten nach ihrer Überzeugung "zum Besten der Kinder" gehandelt, das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit lasse in diesem Fall eine Bestrafung nicht zu.
Prompt legte die Staatsanwaltschaft, die vor dem Amtsgericht ein Bußgeld von 800 Euro gefordert hatte, Berufung ein. Jetzt muss das Gießener Landgericht entscheiden und abwägen zwischen Schulpflicht und Glaubensfreiheit. Michael Bauer, gelernter Automechamiker, begründet durchaus detailliert, warum er eine öffentliche Schule für seine Kinder unzumutbar findet. So stören sich die Eheleute besonders an der "unkritischen und ausschließlichen" Weitergabe der Evolutionstheorie. Denn sie selbst legen die Bibel wörtlich aus. "Unsere Kinder sollen lernen, dass Gott die Welt erschaffen hat, wie es in der Bibel steht - ohne Ausflüchte", sagt Bauer. Die Schule indes weise auf die christliche Schöpfungsgeschichte nicht einmal hin.
Ein Dorn im Auge ist den Bauers, die nach eigenen Angaben einer kleinen evangelisch-reformierten Gemeinde in Gießen angehören, auch die angeblich "ständige Konfrontation" von Schülern mit dem Thema Sexualität. Kinder würden "regelrecht zur Zügellosigkeit und Ausschweifung animiert", kritisiert Michael Bauer, "das sexuelle Verlangen wird in ihnen gewaltsam geweckt." Ein so sensibles Thema wie Sexualität sei Elternsache.
Jeden Vormittag fünf Stunden Unterricht
Die Eltern Bauer aus Gemünden-Ehringshausen nennen noch weitere vermeintlich schädliche Einflüsse und lehnen zum Beispiel pädagogische Methoden wie Rollenspiele ab, die Kinder ihrer Meinung nach durch Gruppenzwang negativ beeinflussen. Auch würden Eltern, deren Kinder doch gehorchen sollten, in Schulbüchern als "dumm und hinterwäldlerisch" dargestellt.
Und so unterrichtet die Hausfrau Sigrid Bauer, 35, die schulpflichtigen Samara, Damaris, Rebecca, Tim und Lucas jeden Vormittag fünf Stunden lang im alten Bauernhaus der Familie, in einem kleinen Schulraum mit Bänken und Stühlen. Lehrbücher erhält sie von der nicht anerkannten Philadelphia-Schule.
Die Entscheidung im Gießener Prozess wird für den kommenden Mittwoch erwartet. Selbst wenn die Eltern verlieren, dürfte das Problem damit nicht vom Tisch sein. Denn sie zeigen keinerlei Bereitschaft, ihren Kurs zu ändern: "Auf keinen Fall" wollten sie die Kinder wieder in öffentlichen Schulen anmelden, denn es gebe für sie "nichts Besseres, als zu Hause unterrichtet zu werden", so Michael Bauer.
Ganz allein sind die Bauers mit ihrem Schulboykott nicht: Bundesweit würden etwa 40 bis 80 Kinder aus religiösen Gründen nicht in den Unterricht geschickt, schätzt Andreas Fincke von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Er sieht die Schulpflicht als große Errungenschaft: "Damit hat jedes Kind ein Recht auf Schule und Wissen."
Der Staat in der Zwickmühle
In den letzten Jahren gab es in Deutschland verstärkt Debatten um Konflikte zwischen Glauben und Schule - etwa um das Kopftuch-Urteil, zuvor um die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder auch um den Prozess zu einem Tischgebet in einem kommunalen Kindergarten. Umstritten ist beispielsweise auch, ob Muslime am Sportunterricht oder Kinder bibelfester Eltern am Sexualkundeunterricht teilnehmen müssen.
Nach Auffassung von Andreas Fincke reiht sich der Zwist um den Heimunterricht da nahtlos ein. "Es gibt das Recht des Einzelnen zu religiösen Äußerungen - aber eben auch das Recht, nicht gegen seinen Willen damit konfrontiert zu werden." In den USA und Israel habe sich bereits eine große "Home Schooling"-Bewegung formiert, sagt Fincke. Und befürchtet: "Wenn die Gerichte in Deutschland diese Tür zum Heimunterricht öffnen, ist die Schulpflicht hinüber."
Der Staat indes steckt in einer Zwickmühle: Die Kultusminister können kaum den Eltern die Entscheidung überlassen, ob, wann und wie sie einen Unterricht für ihre Kinder organisieren. Zudem soll Schule nicht allein für alle Schüler verbindliche Lerninhalte wie das kleine Einmaleins oder korrekte Rechtschreibung vermitteln. Auch soziales Lernen spielt zum Beispiel eine Rolle, der Umgang mit Konflikten, religiöse und politische Toleranz, die Befähigung zu selbstständigen Entscheidungen - und Allgemeinbildung. Dass ein Staat für annähernd gerechte Chancen beim Start in eine spätere Ausbildung, ein Studium oder in den Beruf sorgen muss, zählt ebenfalls zum demokratischen Grundkonsens.
"Soll man schreiende Kinder in Streifenwagen ziehen?"
Die Schulpflicht gegen beträchtlichen Widerstand etwa von fundamentalischen Bibelexegeten durchzusetzen, ist für die Kultusminister allerdings eine schwierige und höchst undankbare Aufgabe. "Es wird im Grunde weggesehen", hat Andreas Fincke beobachtet, "sonst müsste man wohl schreiende Kinder in Streifenwagen ziehen."
Solche Szenen hat es bereits gegeben - etwa bei den "Zwölf Stämmen". Die insgesamt rund 120 Angehörigen der Gemeinschaft sehen sich als wahre Jünger Jesu und haben sich auf einem ehemals fürstlichen Gutshof im bayerischen Klosterzimmern niedergelassen. Beseelt von der Tradition der Ur-Christen erwarten sie bald nach der Vereinigung der Zwölf Stämme den Countdown für das Ende der Welt, eine Apokalypse mit Feuer und Flut.
Die Mitglieder unterrichten ihren Nachwuchs selbst und wehren sich gegen die "geistigen Einflüsse und Strömungen dieser Zeit". Staatliche Schulen kommen für sie gar nicht in Frage - schließlich werde dort nicht die "reine Schöpfungslehre" unterrichtet. Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) wollte das vor einem Jahr nicht länger dulden und ließ die Polizei anrücken. Die Bewohner flüchteten unter Glockengeläut in die Kirche, die Kinder klammerten sich an ihre Väter und Mütter. Dennoch brachten die Bamten sie am 7. Oktober 2002 in eine nahe gelegene Grund- und Hauptschule.
Bald war wieder alles beim Alten. Vor drei Wochen hat das Amtsgericht Nördlingen erneut 14 Bußgeldbescheide gegen Elternpaare der "Zwölf Stämme" bestätigt. Doch all die Zwangs- und Bußgelder, die sich inzwischen auf einige sechsstellige Summe belaufen, beeindrucken die Eltern offenbar wenig. Sie weigern sich schlicht zu zahlen, und für Gerichtsvollzieher ist bei den neuen Ur-Christen nichts zu holen, weil ihr Einkommen unter der Pfändungsgrenze liegt - der Freistaat Bayern scheint machtlos.