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Ausflug ins Schulmuseum: Du heißt heute Agathe

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Schulausflug ins Kaiserreich Früher war mehr Rohrstock

Laut, unruhig, chaotisch - der heutige Schulunterricht wird oft kritisiert. Ob er früher besser war, hat eine Grundschulklasse in Hamburg getestet.

Der Ausflug beginnt mit einer Rechenaufgabe: "Seht euch mal diese Jahreszahl an", sagt die Mitarbeiterin des Hamburger Schulmuseums, Daniela Wempner, zur 4d und deutet auf die 1888 an dem ehemaligen Schulgebäude gegenüber. "Wie viele Jahre ist das her?" Ein Junge schätzt schnell: "Tausend?!" Damit liegt er rein rechnerisch zwar daneben, aber irgendwie doch richtig.

Gefühlt ist die Kaiserzeit in Deutschland für die knapp 20 Grundschüler aus Glinde mindestens so weit weg. Das zeigt sich an diesem Vormittag mehrfach, vor allem als die Kinder mit Wempner eine Unterrichtsstunde nachspielen, so wie sie an vielen Schulen um das Jahr 1900 ablief - inklusive altmodischer Schürzen, Halstücher und Namen.

Aus Hamin, Noel, Isabell oder Suerre, die im Jahr 2017 leben, werden Erna, Berta, Otto oder August - Kinder aus der Kaiserzeit. Die Hände gefaltet auf den Tischen, die Füße dicht zusammen - brav nebeneinander aufgereiht sitzen sie im Klassenraum. Ihr Blick folgt dem Zeigestock zum Porträt über der Tafel von Kaiser Wilhelm II. Dann sprechen sie dem "Fräulein" artig nach: "Unser allergnädigster und geliebter Kaiser, er lebe hoch!" Drei Mal, im Chor.

"Unser allergnädigster und geliebter Kaiser, er lebe hoch!"

"Unser allergnädigster und geliebter Kaiser, er lebe hoch!"

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Schreiben üben steht als Nächstes auf dem Stundenplan, und damit beginnt ein festgelegtes Ritual. Je ein Kind tritt aus der Bankreihe, Hände an der Hosennaht, und holt von der Lehrerin Schiefertafeln und Griffel für sich und die Banknachbarn. Die Jungs machen einen Diener, die Mädchen einen Knicks. Auf Kommando reichen sie Tafeln und Griffel durch. Alle Abläufe sind strikt festgelegt.

Als die Kinder das i schreiben, gibt ein Singsang der Lehrerin den Takt vor: "Rauf, runter, rauf, Pünktchen oben drauf." Lernen im Gleichschritt. All das, was Bildungsexperten heute propagieren und manch konservative Kritiker beklagen, gibt es hier nicht: Schüler, die in Gruppen arbeiten, durch die Klasse wuseln, Wochenpläne haben, sich selbst organisieren, individuell lernen.

Das Fräulein fragt auswendig gelerntes Wissen ab. "Berta, was sollte deine Frau Mutter mit einem schmutzigen Taschentüchlein tun?" Die Schüler sollen die Antworten abspulen, und zwar "bitteschön in einem ganzen deutschen Satz". "Fräulein Lehrerin, meine Frau Mutter soll das Taschentüchlein in heißem Wasser kochen."

Kinder, die solche Sätze artig widergeben, lobt die Lehrerin vor der Klasse. "Aus dir wird sicher einmal eine gute Hausfrau", sagt sie den Mädchen. Jungen werden "bestimmt einmal tapfere Soldaten". So vermittelt die Lehrerin den Kindern immer wieder traditionelle Rollenbilder und gesellschaftliche Werte der damaligen Zeit: Ordnung, Disziplin, Vaterlandsliebe, Verehrung des Militärs und des Kaisers.

Das "Fräulein" bietet den Schülern Struktur und Orientierung, aber die Stunde zeigt eindrucksvoll: Wenn der Rahmen zu eng gesteckt ist, nimmt er Kindern jeden Freiraum. Eigenständig denken, kritisch hinterfragen, eine Meinung vertreten - all dies ist absolut unerwünscht. Und obwohl die Schulstunde nur ein Spiel ist, begreifen die Kinder, worauf es ankommt, und werden bedenklich still.

Schreibübung im Gleichtakt

Schreibübung im Gleichtakt

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Kein Schüler ruft rein oder stört. Die Kinder wissen, welcher Ärger ihnen sonst droht. Adam hat mehrfach gekichert. Deshalb sollen alle Schüler 100 Mal "Kartoffelschälmesser" schreiben. Kollektivstrafe. Als Clara ihrer Nachbarin etwas zuflüstert, schlägt die Lehrerein aufs Pult. "Es wird nicht geplappert und nicht gelacht!" Clara muss in die Ecke.

Als die Stunde vorbei ist, sind die Kinder begeistert von der Erfahrung, eingeschüchtert von dem Drill - aber auch fasziniert: "Ich fand gut, dass es so streng war, weil es dann so ruhig ist und man gut lernen kann", sagt ein Mädchen. Trotzdem möchte sie mit den Schülern von früher auf keinen Fall tauschen: "Der Unterricht hier war ja nicht echt. Wenn es bei uns so zugehen würde, hätte ich in der Schule richtig Angst."

Hanim, während der historischen Schulstunde wurde sie zu Clara, erzählt, wie schlimm es sich anfühlte, in die Ecke geschickt zu werden. "Das war voll peinlich." Es sei ungerecht, dass alle Schüler Ärger bekommen, "nur weil einer Quatsch gemacht hat". Für echte Empörung sorgt bei den Schülern eine Disziplinierungsmaßnahme, die im Rollenspiel nicht vorkam, sondern von der Wempner ihnen erzählt hat: die Prügelstrafe.

Erziehung zu "guten Untertanen"

In einem Strafenbuch, das im Museum ausgestellt ist, sind für einen Jungen sieben Schläge mit dem Stock dokumentiert, weil er "eigensinnig" war und nicht lesen wollte. Damit zog er den größten Ärger auf sich, auch wenn er vielleicht einfach schlecht lesen konnte und Angst vor dem Lehrer hatte, wie Wempner vermutet. "Das Schlimmste, was Schüler früher tun konnten, war ungehorsam zu sein."

Der Unterricht lief zwar nicht bei allen Lehrern gleich ab, aber das pädagogische Leitbild war: Kindern einzubläuen, Obrigkeiten niemals anzuzweifeln. "So wollte man sie zu 'guten Untertanen' erziehen", sagt Wempner. "Die Menschen sollten auch als Erwachsene nicht aufbegehren, sondern vor allem als Soldaten blinden Gehorsam zeigen und in den Krieg ziehen."

"Es war diese Erziehung, von der die Nationalsozialisten und Adolf Hitler Anfang der Dreißigerjahre vermutlich sehr profitiert haben", sagt die Museumsmitarbeiterin." Nicht zuletzt deshalb hat vor Jahren ein Umdenken stattgefunden. Schläge, Ohrfeigen, Demütigungen, Strafarbeiten, Kollektivstrafen - all das ist in deutschen Klassenzimmern inzwischen lange verboten oder mindestens verpönt.

Etliche Lehrer beklagen durchaus, dass ihnen eine Handhabe gegen Respektlosigkeit oder Chaos fehle. Aber die Klassenlehrerin der 4d, Maarika Nikoui, sieht das anders. Disziplinprobleme habe sie in ihrer Klasse nicht. "Damit die Kinder in Ruhe arbeiten, wechsle ich öfter die Methoden: Sitzkreis, Partnerarbeit, Stationenreise", sagt Nikoui. "Kinder brauchen auch mal Unruhe." Sie biete immer wieder Bewegungsspiele an und versuche vor allem, jeden Morgen gut gelaunt und lachend in die Klasse zu kommen.

"Es geht um eine freundliche Strenge", sagt die Lehrerin. "Das Wichtigste ist, dass die Kinder Vertrauen haben und eine gute Grundstimmung herrscht." Als der Vormittag im Schulmuseum zu Ende geht, ist von dieser guten Stimmung viel zu merken. Die Schüler stürmen über Treppen und Flure nach draußen. Nicht besonders leise, aber irgendwie befreit.

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