
Ehrgeizige Eltern Chill mal dein Leben, Papa

Ich wäre gern gelassener. Zum Beispiel wenn Nick*, einer der engsten Freunde meines 16-jährigen Sohnes, bei uns zu Besuch ist und erzählt, dass er jetzt in die örtliche Franchise-Niederlassung irgendeiner Nachhilfekette geht.
"Echt cool" sei es da, "die Betreuer! Alter! Voll korrekt!", und im Übrigen sei er in Mathe, Englisch, Deutsch und Geschichte "sofort" viel besser geworden, bei Klausuren und in "SoMi" auch, was für "sonstige Mitarbeit" steht. Nick hatte im Sommer einen Zeugnisdurchschnitt von 2,2.
Ich finde, das ist für einen Jungen im anstrengenden Alter von 16 Jahren eine wirklich gute und akzeptable Leistung. Andere Eltern finden das offenbar nicht - warum sollten sie sonst einen Schüler mit diesem Notenschnitt zur Nachhilfe schicken, und das gleich in vier Fächern?
So weit meine normale - und wie ich finde ziemlich entspannte - Einstellung zu diesem Thema. Die ich im Alltag als Journalist, als Autor, als Freund und Kollege ohne zu zögern vertreten und durchargumentieren kann.
Doch als Vater? Nun ja.
Noch während Nick von der Nachhilfe erzählt, schalte ich innerlich in den Alarmmodus: Muss ich meinen Sohn - Schnitt 2,1 - jetzt auch zur Nachhilfe schicken? Wird Nick ihn sonst etwa überholen? Wäre das nicht ohnehin gut investiertes Geld, wo doch alle Welt immer von Bildungsrendite redet? Und verpasst mein Kleiner vielleicht den Anschluss, wenn alle anderen auf die Optimierung der Schulleistung setzen, während ich ihn spätnachmittags nach acht Schulstunden lieber in Ruhe lasse?
Andreas Gleim, Chefjustiziar der Hamburger Schulbehörde, über absurde Fälle, in denen Eltern die Schulen und Lehrer ihrer Kinder verklagen:
Es dauert, bis ich wieder runterkomme und selbst glaube, was ich mir einrede: Nein, das haben wir nicht nötig. Den ganzen Hype um Zehntelnoten hinterm Komma sollen andere ausleben, für die aufgeregte Wortführerschaft beim monatlichen Elternstammtisch gibt es bessere Kandidaten. Sollen sie doch in ihrer Empörung über die Arbeitsaufgaben des Erdkundelehrers baden, sollen sie von juristischen Kleinkriegen gegen die Zeugnisnoten auf Kosten ihrer Rechtsschutzversicherung träumen - ich mache da nicht mit.
"Chill mal dein Leben" hält mir mein Sohn gern mal entgegen, wenn ich tobe - wohlwissend, dass er mich damit noch mehr reizt. In diesem Moment aber komme ich mir dermaßen gechillt vor, dass vielleicht sogar er stolz auf mich wäre. Hoffe ich.
Die Gelassenheit hält genau 20 Minuten, bis zum Heimweg vom Elternstammtisch, den ich zusammen mit einem anderen Vater antrete.
Der erzählt mir, er habe gehört, dass die Kinder im nächsten Halbjahr eine neue Mathelehrerin bekommen - ausgerechnet Frau Schröder! Frau Schröder! Die mit der Fünfzigerjahre-Pädagogik! Die mit dem undurchschaubaren Punktesystem! Die mit den unsinnigen Strafarbeiten im Akkord!
Zum Glück kenne ich da diesen Rechtsanwalt, der auf Schulthemen spezialisiert ist, höre ich mich sagen - dem kann ich am besten schon mal Bescheid geben, dass wir ihn demnächst vielleicht konsultieren müssen. Und schaue zur Sicherheit direkt nach: Doch, die Nummer habe ich im Handy gespeichert.
"Sag mal, spinnst du eigentlich?", fragt mein Sohn, als ich ihm am nächsten Morgen beim Frühstück von den Eltern-Abwehrplänen gegen die neue Mathelehrerin erzähle. "Das wäre so was von peinlich, wenn du dich da so reinhängst", sagt er mit ehrlichem Entsetzen und zieht das "ei" extra in die Länge: "peeeeeeiiiiiinlich". Sie würden schon klarkommen mit der Schröder, "schließlich sind wir keine kleinen Kinder mehr".
Basta, sagt seine Körperhaltung. Halt dich da raus. Kurze Pause, kurzer Checker-Blick in meine Richtung. Dann: "Ich hab dich echt für entspannter gehalten."
*alle Namen geändert

Armin Himmelrath, Jahrgang 1967, ist freier Bildungs- und Wissenschaftsjournalist, Buchautor und dreifacher Vater. Als Erziehungsberechtigter kommt er bisher auf insgesamt 32 Jahre Schulzeit-Erfahrung - mit (fast) allen Höhen und Tiefen. Einer seiner Söhne hat das Abitur bereits erfolgreich bestanden, die beiden anderen streben es noch an.