Schulmathematik absurd 26 Schafe + 10 Ziegen = 36 Jahre

Manche Schüler mögen Mathe, andere hassen das Fach. Viel hängt davon ab, wie die Kinder den Unterricht erleben: Bekommen sie Lösungstechniken eingetrichtert? Oder dürfen sie kreative Ideen entwickeln? Tests mit simplen Textaufgaben zeigen, dass eine Menge schiefläuft in den Schulen.
Ziege in Schafherde: Wie alt ist der Kapitän?

Ziege in Schafherde: Wie alt ist der Kapitän?

Foto: dapd

Keine Angst, Sie müssen jetzt nicht an die Tafel und x3 + 5x2 - 4 differenzieren. Dieser Text beginnt mit einer wirklich einfachen Frage: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän? Was meinen Sie?

1980 haben Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM Grundschülern in Grenoble diese Aufgabe gestellt. 76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus - also mehr als drei Viertel. Dreimal dürfen Sie raten, auf wie viele Jahre die Schüler gekommen sind: 36.

In der Tat ergibt die Addition von 26 und 10 die Zahl 36, addieren konnten die Schüler offensichtlich. Das Ergebnis ist freilich völliger Unsinn. Hier werden zwar nicht Äpfel mit Birnen verglichen, aber Schafe und Ziegen zu Jahren zusammengerechnet.

In der Lehrerschaft sorgte die Untersuchung für Empörung. "So darf man das doch nicht machen", "Das ist Machtmissbrauch", "Eine Schande, so etwas Kindern anzutun" - derartige Kommentare musste sich die französische Mathe-Didaktikerin Stella Baruk anhören, als sie die Studie Lehrern vorstellte.

Wie aber kommen Schüler darauf, Schafe und Ziegen zu Jahren zu addieren? Wissenschaftler haben das Phänomen der sogenannten Kapitänsaufgaben  in den vergangenen 30 Jahren unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht - bis heute machen viele Schüler dieselben Fehler.

Blind drauflosrechnen

Und es wird noch kurioser: Bei Tests mit deutschen Schülern Mitte der neunziger Jahre haben Wissenschaftler von der TU Dortmund beobachtet, dass diese sogar dann anfangen zu rechnen, wenn sie es eigentlich gar nicht müssten: Ein 27 Jahre alter Hirte hat 25 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Hirte?

Obwohl die Lösung 27 Jahre klar im Text steht, rechneten die Kinder munter drauflos. 27 + 25 + 10, 27 + 25 - 10 - bei den Rechenwegen zeigten sich die Grundschüler erfinderisch. Im Anschluss baten die Forscher die Kinder, ihre Lösungen noch einmal zu erklären.

Viele waren überzeugt, alles richtig gemacht zu haben, wie das folgende Gesprächsprotokoll von Hartmut Spiegel und Christoph Selter  zeigt:

Sebastian: Ich weiß es. Ein 27 Jahre alter Hirte, da muss man die 25 noch dazuzählen. Und die 10 Ziegen, die laufen ja nicht weg!

Frage: Die laufen nicht weg?

Sebastian: Ne, hab' ich nicht geschrieben!

Frage: Und was musst du da rechnen?

Sebastian: 27 plus 25 plus die 10.

Frage: Weil die Ziegen nicht weglaufen?

Sebastian: Ja.

Frage an Dennis: Und was meinst du?

Dennis: Die laufen weg! Der passt da nicht drauf auf!

Die phantasievollen Erklärungen der beiden Jungen wirken rührend, sie sind aber vor allem eins: erschreckend. Ziegen und Schafe zum Alter des Kapitäns zusammenzählen - lernen die Kinder das so im Mathematikunterricht?

Die traurige Antwort darauf lautet: offensichtlich ja. Dies hat Hendrik Radatz bei einer Untersuchung mit deutschen Schülern und Kindergartenkindern herausgefunden. Er stellte mehr als 300 Kindern die unsinnigen Kapitänsaufgaben. Und dabei kam heraus, dass die Kinder umso häufiger eine "Lösung" ausrechneten, je älter sie waren.

Die Kita-Kinder kamen auf eine Berechnungsquote von nur etwa zehn Prozent, die Zweitklässler auf 30 Prozent, die Dritt- und Viertklässler hingegen auf 54 beziehungsweise sogar 71 Prozent! Je mehr Mathematikunterricht die Schüler erlebt haben, desto schneller rechnen sie ohne nachzudenken einfach blind drauflos.

Prägender Unterricht

Warum das so ist, wissen Pädagogen mittlerweile. Im Unterricht werden Textaufgaben intensiv geübt. Die Texte selbst sind meist belanglos und haben mit dem tatsächlichen Leben der Kinder wenig zu tun. Wozu sollen sie die Aufgabe dann genau lesen, wenn sie ja immer wieder nur Zahlen in eine Gleichung einsetzen? In der Regel ist bei den Textaufgaben zudem jene Rechenoperation gefragt, die gerade im Unterricht besprochen wurde.

Und in den Aufgaben wird nicht nach dem Sinn gefragt, sondern nach einer Zahl. Das haben die Schüler im Unterricht schnell verinnerlicht.

Die Kinder verhalten sich so, wie es von ihnen erwartet wird. Wenn sie merken, dass bei der Aufgabe etwas nicht stimmen kann, rechnen sie trotzdem weiter und geben die Schuld dann dem Aufgabensteller, wie Didaktiker der TU Dortmund beobachtet haben. Exemplarisch dafür steht der folgende Dialog eines Lehrers mit einer Schülerin:

Lehrer: Du hast 10 Bleistifte und 20 Buntstifte. Wie alt bist du?

Julia: 30 Jahre alt!

Lehrer: Aber du weißt doch genau, dass du nicht 30 Jahre alt bist!

Julia: Ja, klar. Aber das ist nicht meine Schuld. Du hast mir die falschen Zahlen gegeben.

Das Kapitänsaufgaben-Phänomen zeigt eindrucksvoll, dass im Mathematikunterricht einiges schiefläuft. Das Denken kommt zu kurz, und das hat viel damit zu tun, dass Lehrer dieses Fach selbst nicht anders kennengelernt haben. Wer verhindern will, dass viele Menschen mathegeschädigt die Schule verlassen, muss also auch die Lehrerausbildung verbessern. Die Lehrer sind, so glauben viele Didaktiker und Mathematiker, der Schlüssel zur Lösung des Problems.

Immerhin gibt es Hoffnung, dass sich die Situation künftig verbessern könnte. Die Deutsche Telekom Stiftung hat im Sommer 2011 beschlossen, ein bundesweites Zentrum für Lehrerbildung  einzurichten. Erklärtes Ziel ist es, die Aus- und Weiterbildung von Mathe-Lehrern langfristig zu verbessern. Wenn das Vorhaben gelingt, braucht sich die nächste Generation nicht mehr vor Sinusfunktionen und Integralen zu fürchten.


Das ist ein Auszug aus Kapitel 4 des soeben erschienen Buchs "Je mehr Löcher, desto weniger Käse - Mathematik verblüffend einfach"  von Holger Dambeck (Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten, 8,99 Euro).

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