Eltern verklagen Lehrer "Es kommt zu unglaublichen Exzessen"

Lehrer haben es gegenüber manchen Eltern schwer
Foto: Julian Stratenschulte/ picture alliance / dpaEltern, die mit dem Anwalt in der Schule aufkreuzen, sind das Alltagsgeschäft von Hans-Peter Etter, Lehrer und Leiter der Rechtsabteilung des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV). Es sind inzwischen so viele Eltern streitlustig, dass Etter sein Personal in den vergangenen 20 Jahren kräftig aufstocken musste: Er hat jetzt nicht mehr drei, sondern 17 Rechtsberater für Lehrer im Einsatz. Im Mai herrscht Hochbetrieb.
SPIEGEL ONLINE: Herr Etter, es ist in diesen Tagen besonders schwierig, Sie ans Telefon zu bekommen. Woran liegt das?
Etter: In Bayern wurden gerade die Übergangszeugnisse an die Viertklässler verteilt. Darin steht, ob die Kinder eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen. Wenn das nicht der Fall ist, laufen viele Eltern Sturm. Sie geben dem Lehrer die Schuld und gehen massiv gegen ihn vor, häufig mit juristischen Mitteln.
SPIEGEL ONLINE: Eltern, die vor Gericht um halbe Noten streiten, sind also kein Klischee?
Etter (lacht): Im Gegenteil. Das erlebe ich relativ häufig. Der Streit um Noten fängt meist lange vor der Zeugnisvergabe an und geht am Gymnasium gnadenlos weiter. Bei uns in der Rechtsabteilung schlagen eben nur die Härtefälle auf, aber die wurden in den letzten Jahren immer mehr. Da haben wir es dann mit Eltern zu tun, die massiv mit allen Mitteln um einzelne Punkte kämpfen. Es geht nicht nur darum, ob das Kind das Abitur überhaupt schafft, sondern auch mit welcher Durchschnittsnote. Es ist dabei erstaunlich, was sich einige Eltern herausnehmen. Es kommt zum Teil zu unglaublichen Exzessen.
SPIEGEL ONLINE: Wie gehen diese Eltern vor?
Etter: Viele sind rechtsschutzversichert und sagen sich: 'Jetzt zeige ich dem Lehrer mal, wo es lang geht'. Die klagen endlos und versuchen einen Lehrer oft insgesamt zu desavouieren. Sie passen genau auf, ob er im Unterricht mit dem Handy telefoniert hat, ob er Probearbeiten oder Schulaufgaben rechtzeitig angekündigt hat etc. Vor Gericht geht es nur um solche Formalitäten. Denn kein Richter entscheidet, ob ein Aufsatz mit einer Zwei oder Drei richtig bewertet ist. Andere kopieren Klassenarbeiten als 'Beweise' oder fordern eine genaue Dokumentation, wie es zu einer mündlichen Note kommt - mit Datum und Themenbezug.
SPIEGEL ONLINE: Können die Lehrer gegenhalten?
Etter: Lehrer müssen beispielsweise mündliche Noten sehr genau dokumentieren. Tun sie das nicht, haben sie vor Gericht ein Problem. Viele sind auf solche Konfrontationen aber gar nicht vorbereitet und fühlen sich zudem von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen. Lehrkräfte berichten uns immer wieder, dass Schulleiter und Behörden den Ärger gerne unter den Teppich kehren, damit die Schule nicht schlecht dasteht. Für Lehrer ist das alles extrem belastend.
SPIEGEL ONLINE: Sollen Eltern denn nicht protestieren, wenn ihr Kind ungerecht behandelt wird?
Etter: Doch, das ist natürlich ihr gutes Recht. Eltern wollen das vermeintlich Beste für ihr Kind. Gleichzeitig ist der Lehrer heute nicht mehr qua Amt eine Autorität, die nicht angezweifelt werden darf. Gott sei Dank! Aber einige Eltern verlieren in ihrer Kritik das Maß und schaden damit letztlich ihrem Kind.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Etter: Wenn Eltern so massiv auftreten, stört das die Beziehung zwischen dem Lehrer und dem Kind. Dabei ist diese Beziehung entscheidend, damit Lernen funktioniert und Spaß macht. Zum Glück ist das Verhältnis von Eltern und Lehrern heute insgesamt sehr gut. Aber es reicht eben schon ein Elternpaar in der Klasse, das Unruhe stiftet oder mit dem Anwalt droht. Das kann Lehrern das Leben zur Hölle machen.
SPIEGEL ONLINE: Die Lehrer haben keine Schuld?
Etter: Wenn ein Konflikt eskaliert, liegt das in einigen Fällen durchaus auch an den Lehrern. Sie werden viel zu wenig darauf vorbereitet, dass sich ihre Rolle und das Verhalten der Eltern verändert haben. Lehrer müssten in Elternarbeit und juristischen Fragen besser geschult werden. Dann könnten sie einer Mutter, die um Punkte feilscht, anders gegenübertreten, mehr Verständnis für ihre Sorgen zeigen und beispielsweise eine Drei plus souverän begründen.
SPIEGEL ONLINE: Warum müssen Eltern und Lehrer überhaupt über eine Drei plus streiten?
Etter: Der Fehler liegt im System. Eltern haben viel größere Angst als früher, dass ihrem Kind ohne Abitur die Zukunft verbaut ist. In Bayern sind sie völlig vom Urteil des Lehrers abhängig, weil er über die Empfehlung fürs Gymnasium entscheidet. Wir fordern deshalb: Die Eltern sollten selbst entscheiden.
SPIEGEL ONLINE: Was würde das ändern?
Etter: Wenn der Elternwille gilt, hat das in anderen Bundesländern - anders als viele bei uns befürchten - nicht dazu geführt, dass die Gymnasien überrannt werden. Es würde aber den Druck total rausnehmen und viele dieser juristischen Exzesse verhindern, die wir jetzt erleben. Noch besser wäre es, wenn man Kinder nicht schon im Alter von neun oder zehn Jahren nach Leistung sortieren würde, sondern erst deutlich später. Wir hätten dann in meiner Abteilung deutlich weniger zu tun, aber das würde ich gerne in Kauf nehmen.