Die Schul-Verbesserer - Teil 2 Sollten Schulen auf Noten verzichten?

Schülerinnen mit Zeugnissen (Archivbild): Sind Zensuren sinnvoll oder nicht?
Foto: A3462 Thomas Frey/ dpaSchulnoten können für Stress und Verzweiflung sorgen, aber auch für großen Stolz. Viele Schüler trauen sich wegen schlechter Noten kaum nach Hause. Vor zwei Jahren schämte sich ein elfjähriger Junge aus Brandenburg sogar so sehr, dass er sich 22 Stunden lang versteckte, während Polizisten mit Hubschraubern und Hundestaffeln nach ihm suchten.
Doch Noten machen nicht nur Angst, sie gelten auch als ungerecht, was Schüler, Eltern und sogar Lehrer immer wieder kritisieren. "Jeder Lehrer hat beim Korrigieren schon als Erstes auf den Namen des Schülers geschaut - und nicht auf die gelösten Aufgaben", räumte eine Lehrerin in einem anonymen Beitrag unumwunden ein. Einige Bildungspolitiker, vor allem von SPD und Grünen, erhoffen sich durch weniger Ziffernnoten mehr Chancengerechtigkeit.
Schüler sollen sitzenbleiben können, Noten sind sinnvoll: Die Deutschen plädieren mehrheitlich für leistungsorientierte Schulen. Lesen Sie die Details hier im SPIEGEL. mehr...
Sind Noten also unnötig und schlecht für alle Beteiligten? Sollte in der Schule nicht fürs Leben gelernt werden? Nicht nur, sagen Noten-Befürworter und fragen: Können sich Schüler genügend motivieren, wenn sie keinen sichtbaren Erfolg oder Misserfolg zu erwarten haben?
Dass Kinder und Jugendliche wissen wollen, wo sie in der Schule stehen, ist meist der Fall. Dass Eltern einschätzen möchten, ob ihre Kinder fleißig sind, auch. Dass ein Arbeitgeber erkennen will, ob ein Lehrstellenbewerber rechnen und schreiben kann, ebenso.
Doch: Müssen Schulleistungen zwingend über Noten kenntlich gemacht werden? Und welche Alternativen gibt es?
Lesen Sie hier die Argumente von Bildungsministern, Experten, Lehrern und Schülern aus der großen SPIEGEL-Schulumfrage zur Frage: Sollten Schulen auf Noten verzichten?
Nein, vor allem nicht bei älteren Schülern, finden:

Ties Rabe (SPD), Schulsenator von Hamburg:
"In den Anfangsklassen ja, spätestens ab Klasse 4 nicht mehr. Wir bereiten unsere Kinder auf das Leben in einer Leistungsgesellschaft vor, und auch die Eltern haben ein Recht darauf, kurz und verständlich über den Leistungsstand ihrer Kinder informiert zu werden."
Mona Steininger, Preisträgerin beim SPIEGEL-Schülerzeitungswettbewerb:
"Einen generellen Verzicht auf Noten in allen Jahrgangsstufen und Schularten fände ich nicht gut. Schulen sollen die Schüler auf das spätere Leben vorbereiten, und da gehört eine meistens sehr strikte Bewertung wie in der Universität nun mal dazu. Ich fände es gut, wenn die Schüler langsam an das Notensystem herangeführt würden, also zum Beispiel in der ersten Klasse nicht per Note bewertet werden, und dass die Schüler dann die Klasse wiederholen, wenn der Lehrer es für notwendig hält."

Richard David Precht, Bestsellerautor:
"Im gegenwärtigen System kann man Noten nicht abschaffen, weil das ganze System darauf ausgerichtet ist. Es wäre aber ein System denkbar - und wird ja mancherorts auch praktiziert -, das keine Ziffernzensuren benötigt."

Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags:
"Ich dränge eher auf mehr Vergleichbarkeit bei den Schulnoten als auf deren Verzicht. Schulzeugnisse sind für die meisten Unternehmen bei der Suche nach Auszubildenden ein wichtiges erstes Auswahlkriterium. Sie helfen bei der Beurteilung, ob ein Bewerber die notwendigen Kompetenzen für den Beruf mitbringt, für den er sich interessiert. Da die Schulzeugnisse nicht immer aussagekräftig und leider auch nicht vergleichbar sind, sind sie für die Unternehmen in der Regel aber nicht der alleinige Maßstab."

Johann Beichel, Leiter des Landeslehrerprüfungsamts beim Regierungspräsidium Karlsruhe:
"Nein, aber mit parallelen verbalen Beurteilungen. Erfahrungsgemäß wünschen Schüler Rückmeldungen."
Noten bräuchte man nicht, sagen hingegen:

Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW):
"Ziffernnoten können - zu diesem Schluss kommen Forschungen seit vielen Jahrzehnten - weder objektiv noch gerecht sein. Der Schaden, den sie mit Blick auf Lernmotivation, Leistungsentwicklung und Lernerfolg anrichten können, übersteigt ihren Nutzen bei Weitem. Deshalb sollte in der Grundschule und im gemeinsamen Unterricht zumindest bis Klasse 8 auf Ziffernnoten verzichtet werden. Sinnvollere Möglichkeiten der Leistungsbewertung wie Lernentwicklungsberichte sollten genutzt werden."

Gerrit Petrich, Vorsitzender der Elternkammer Hamburg:
"Ich kann für meine Kinder auf eine 'Benotung' verzichten, weiß aber auch, dass manche Eltern aus 'Berichtszeugnissen' nicht schlau werden, und sich eine klare Antwort auf die Frage nach der Leistung ihrer Kinder wünschen. Auch hier: Bitte nicht eine gute Sache per Zwang einführen, sondern konsensual vor Ort entscheiden."

Ursula Walther, Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands:
"In Grundschulen sollte auf Noten verzichtet werden. Und dabei bedeuten Noten: jede Art von Bewertung, bei der Schüler miteinander verglichen werden - da sind Texte nicht besser als Ziffern. Das Messen an der eigenen Leistung, also der Lernfortschritt, muss dokumentiert werden. Dazu braucht man aber keine Noten. Ab Klasse 7 oder 8 ist Leistungsbewertung nötig, weil das Problem, wie man Zugangsberechtigungen verteilt, derzeit nicht anders lösbar ist."
Andreas Stoch (SPD), Kultusminister von Baden-Württemberg:
"Eine angst- und stressfreie Lernatmosphäre ohne Notendruck bietet viele Vorteile. Zudem ist es umstritten, ob sich die Vergabe von Noten tatsächlich positiv auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern auswirkt. In Grundschulen erproben wir in Baden-Württemberg deshalb zurzeit, wie effizient schulisches Arbeiten ohne Noten ist. Und in den 128 Gemeinschaftsschulen wird bereits ohne Notendruck gelernt. Hier werden nur in den Abschlussklassen Noten vergeben, in den anderen Klassen gibt es stattdessen Beurteilungen über den individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand. Auf Wunsch erhalten die Eltern dazu eine 'Übersetzung in Noten'."

Kerstin Gleine, Friedrich-Ebert-Gymnasium Hamburg, Lehrerin des Jahres 2013 beim Klaus-von-Klitzing-Preis:
"In den ersten Jahren der Schulzeit ist ein Lernentwicklungsbericht viel sinnvoller als Noten in Zahlen. Später kann zu den Berichten über die Kompetenzen der Schüler hinaus auf Wunsch der Eltern eine Note ergänzt werden. Wichtig ist aber, dass die Noten vom Lehrer grundsätzlich kommentiert werden und die Kommentare individuelle Motivationsimpulse beinhalten. Die Notengebung sollte bei den Bewerbungen in Unternehmen oder für bestimmte Studiengänge nur eine untergeordnete Rolle spielen, weil sie von vielen Faktoren abhängt, auch wenn der einzelne Lehrer bemüht sein muss, objektiv und gerecht zu bewerten!"
Und was denken Sie?
WAS SAGEN DIE SCHULVERBESSERER ZUM UNTERRICHTSBEGINN?

Die Haare ungekämmt, der Magen leer, die Augenlider schwer: Früher Unterrichtsbeginn ist für viele Schüler eine Qual. Wann sollte es morgens losgehen? mehr...