Schulranzen-Forschung Klobig. Hässlich. Und zu schwer?
Goethe-Ausgabe, Mathe-Wälzer, Geschichtsschinken, Hefte, Federmäppchen mit Stiften, Turnbeutel, Wasserflasche, Pausenbrot - und das soll alles in einen Schulranzen alles hineinpassen?
Eine Goodwill-Armada aus Gesundheitspolitikern, Krankenkassen, TÜV und anderen besorgten Organisationen entdeckt jährlich zu Beginn des neuen Schuljahres, wie schlecht es um das Rückgrat der Schüler steht. Der Ranzen sei nämlich im allgemeinen, Überraschung, viel zu schwer, und das führe zu Haltungsschäden.
Eine Forschergruppe von der Universität des Saarlandes widerspricht nun dieser Einschätzung. Unter Umständen könnten gut gefüllte Taschen sogar gesund sein, weil sie den Muskelaufbau förderten, so die Forscher.
Was die Fraktion leichter Ranzen dagegen so alles fordert - ein paar Kostproben:
- Die Techniker Krankenkasse warnt pünktlich zum Schulbeginn 2008 vor schweren Ranzen. Ihre Statistiken belegten, dass 50 bis 60 Prozent der Grundschüler bereits unter Haltungsschäden litten. "Ein schlecht sitzender oder zu schwerer Ranzen strapaziert auf Dauer die Wirbelsäule", so TK-Ärztin Gabriele Oberdoerster.
- Der TÜV Süd wies im Juni darauf hin, dass die meisten Kinder ihren Schulranzen zu hoch tragen. Er dürfe vor allem nicht auf den Lendenwirbel drücken und auch nicht über die Schultern hinausragen; die Tragegurte sollten mindestens 40 Millimeter breit und weich gepoltert sein.
- Gesundheitsgefahren sieht auch Miriam Gruß (FDP), Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestags. Schwer bepackte Kinder müssten damit rechnen, eine krumme Wirbelsäule oder Plattfüße zu bekommen. Gruß forderte, dass die Landesministerien das Maximalgewicht von Schulbüchern verbindlich festsetzen und Verlage zudem die Bücher auf leichterem Papier drucken sollen.
- Die Uni Tübingen veröffentlichte 2007 eine Studie, nach der 54 Prozent der Schüler unter Rückenschmerzen in Zusammenhang mit dem Tragen eines Schulranzens klagen. "Zehn- bis Zwölfjährige tragen besonders schwer", so Wissenschaftler Patrik Reize.
- Schon 2007 appellierte das Kultusministerium Baden-Württemberg an Schulbuchverlage, den Unterrichtsstoff auf mehrere leichte Bücher zu verteilen. Per Info-Brief forderte es Schulen dazu auf, schwergewichtige Unterrichtsmaterialien in der Schule aufzubewahren. Dort könne man auch Trinkbrunnen anlegen, damit die Kinder keine schweren Getränke mitbringen müssen.
- Wiegeaktionen in den ersten Tagen des Schuljahres schlugen Baden-Württembergs Grüne vor. Eine Schultasche solle höchstens zehn Prozent des Körpergewichts eines Schülers wiegen, so Sprecherin Renate Raststätter. Das sage auch die DIN-Norm 58124.
Keinen Beleg für Schäden durch Ranzen gefunden
"Alles nur Mythen", widersprechen Medizinexperten der Uni Saarbrücken. Das interdisziplinäre "Kidcheck-Team" der Universität des Saarlandes kam nach ausgedehnten Versuchen zu dem Schluss, die Zehn-Prozent-Passage der Norm 58124 sei wissenschaftlich nicht zu begründen und werde dennoch ständig ungeprüft verbreitet.
Die im Projekt vertretenen Orthopäden, Neurologen, Humanbiologen, Sportwissenschaftler und Physiotherapeuten berufen sich dabei auch auf Arbeiten von Fritz-Uwe Niethard, Chef der Uniklinik Aachen. "Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass der Rücken eines Kindes geschädigt wird, wenn es einen schweren Schulranzen trägt", wird Niethard zitiert.
Die Studie des Saarbrücker Teams untermauerte nun diese Skepsis. 60 Mädchen und Jungen aus Grundschulen wurden gewogen, ihre Haltung gemessen und jeweils mit leichten und schweren Ranzen auf einen Hindernis-Parcours geschickt. Bei der Simulierung eines anspruchsvollen Schulweges waren die Kinder 15 Minuten lang ununterbrochen in Bewegung. Im Ergebnis waren die Körperhaltung danach nicht schlechter und die Muskulatur nicht merklich ermüdet.
Zehn Prozent? Eine Empfehlung aus dem Ersten Weltkrieg
Eine nennenswerte Aktivität von Bauch- und Rückenmuskulatur war überhaupt erst messbar, wenn das Ranzengewicht ein Drittel des Körpergewichts ausmachte. Erst dann änderte die Wirbelsäule ihre Position, und die Muskeln spannten sich deutlich an, um den Körper zu stabilisieren und die Wirbelsäule zu entlasten. "Selbst ein schwererer Ranzen wird eine gesunde kindliche Wirbelsäule nicht schädigen" - so lautet das Fazit des Orthopädie-Professors Eduard Schmitt.
Der ärztliche Direktor des gemeinsamen Projekts der Universität und der "Saarbrücker Zeitung" geht sogar noch einen Schritt weiter: Ein kurzfristig getragener schwererer Ranzen könne die Rumpfmuskulatur bewegungsarmer Kinder trainieren. Da inzwischen beinahe jedes zweite Kind so schwache Bauch- und Rückenmuskeln habe, dass es sich nicht dauerhaft gerade halten könne, müsse jedes Training zur Kräftigung willkommen sein.
Woher kommt dann aber die gebetsmühlenartig vorgetragene Warnung vor irreparablen Haltungsschäden, falls der Ranzen mehr als zehn Prozent des Körpergewichts wiegt?
Auch hier stieß das Kidcheck-Termin auf bereits vorhandene Recherchen von Professor Niethard. "Die Empfehlung stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg", erläutert der Aachener Mediziner. Sie habe sich auf das Gewicht der Tornister eines Rekruten bei Märschen ab 20 Kilometer bezogen. "Diesen Wert auf Ranzen und Schulkinder anzuwenden, ist völlig unrealistisch", erklärte Niethard nach Angaben des Saarbrücker Teams.
maf, AP