Schulreform "Bayern lässt die Hauptschule qualvoll sterben"

In Bayern soll eine neue Schulform die unbeliebte Hauptschule ablösen: die Mittelschule. Für Etikettenschwindel hält das der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes, Klaus Wenzel. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE fordert er: Lasst die Kommunen selbst wählen, welche Schule sie im Dorf haben wollen.

SPIEGEL ONLINE: Herr Wenzel, die Mutter aller Hauptschulen, die Hauptschule des Pisa-Primus Bayern, soll verschwinden. Was bedeutet das für Deutschlands Schulsystem?

Wenzel: Manchmal stirbt eine alte Bekannte, so ist das Leben. Aber glauben Sie mir, es sind keine großen Trauerfeierlichkeiten nötig, wenn es die bayerische Hauptschule erwischt. Ich befürchte nur, dass die Staatsregierung sie nur langsam und qualvoll sterben lassen wird.

SPIEGEL ONLINE: Warum das? Immerhin erfindet Bayern die Hauptschule gerade neu - als Mittelschule. Es soll die Hauptschule des 21. Jahrhunderts werden.

Wenzel: Ach was, das ist kein Neuerfinden, sondern ein Etikettenschwindel. Die Regierung gaukelt verunsicherten Eltern vor, sie brächte mit der Mittelschule etwas Neues auf den Markt. Aber wo Mittelschule drauf steht, ist immer noch Hauptschule drin.

SPIEGEL ONLINE: Diese Mittelschule wird künftig einen mittleren Schulabschluss vergeben.

Wenzel: Eben nicht, das ist doch das Perfide! Die CSU will den Eltern in Bayern weismachen, dass die Mittelschule diejenige der fünfziger und sechziger Jahre ist - die heutige Realschule. Aber das stimmt eben nicht. Der mittlere Abschluss der Mittelschule wird kein Realschulabschluss sein. Die Lobby dieser Schulform hat dafür gesorgt, dass sich Mittelschul- und Realschulabschluss weiter unterscheiden. Der Kultusminister gibt das auch offen zu: Wir nähern uns dem Realschulabschluss an, sagt er. Mehr nicht.

SPIEGEL ONLINE: Zum Mitschreiben für Otto Normalvater: Was ist der Unterschied zwischen alter Haupt- und neuer Mittelschule?

Schulreform in Bayern

Wenzel: Da müssen Sie nicht viel mitschreiben - denn es gibt keinen substantiellen Unterschied. Ein paar Förderstunden mehr, das war's. Ach ja: Und das Türschild wird natürlich ausgewechselt. Aber das wird das Aussterben der Hauptschule nicht aufhalten können. Bayern macht etwas, vor dem alle Bildungsforscher und Experten gewarnt haben: Es filetiert die Hauptschule und sein ganzes Schulsystem in viele schmale Streifen.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Wenzel: Zählen Sie mal nach, wie viele Schulformen mit der Mittelschule unterhalb des Gymnasiums entstehen: Da wird Ihnen schwindelig. Die Zwerg-Hauptschule und die Hauptschule mit Praxisklasse, den Mittelschulverbund und die reinrassige Mittelschule, die Realschule und die Kooperation von Haupt- und Realschule. Das ist das Gegenteil dessen, was wir seit den Pisa-Studien mühsam lernten: Sachte die Schulformen zusammenzuführen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Folgen wird das große Stückeln haben?

Wenzel: Es werden relativ schnell Hunderte Restschulen auf dem Land entstehen. Die heißen weiter Hauptschulen, weil sie zu klein und verstreut sind, um Mittelschule zu werden. Und die Eltern werden das tun, was sie die ganze Zeit schon machen: Sie werden diesen Schulen davonlaufen. Die Abstimmung mit den Füßen ist doch längst im Gange. 700 Hauptschulen mussten in den vergangenen Jahren dichtmachen.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man gegen das Schulsterben unternehmen?

Wenzel: Wir müssen den Dialog in den 71 Landkreisen und 19 kreisfreien Städten suchen. Der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle hat also im Grundsatz Recht, wenn er jetzt nach dem Hamburger Vorbild der regionalen Schulkonferenzen Dialogforen einrichtet. Nur macht er es falsch.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Wenzel: Weil er ihnen keine echte Mitsprache einräumt. Die Eltern und Bürgermeister, die Lehrer und die Wirtschaft vor Ort müssen in den Dialogforen Entscheidungsbefugnis bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das?

Wenzel: Die Kommunen und Kreise sollen selbst entscheiden, welche Schule sie haben wollen. Ich garantiere Ihnen: Die werden alles tun, damit die Schule im Dorf bleibt. Will sagen: Sie werden sich passgenau die Schule bauen, die sie brauchen. Und das ist auch gut so. Weil Sie ein so großes Land wie Bayern nicht mit einem Einheitsschulmodell aus München regieren können. Wie auch? Sie haben in Oberbayern noch leichte Zuwächse bei den Schülerzahlen - in der Rhön und im oberfränkischen Kronach verlieren sie bis zu 40 Prozent der Schüler. In Amberg wechselt noch die Hälfte der Schüler auf die Hauptschule, in München und Starnberg nur dünne 15 Prozent. Bayern spiegelt die Vielfalt der ganzen Republik wieder.

SPIEGEL ONLINE: Wie sähe das neue Schulmodell aus?

Wenzel: Ganz schön bunt. In Weilheim wäre die Schule anders als in Würzburg. In Essenbach bei Landshut würde man entscheiden: Unsere Grundschule dauert sechs Jahre oder länger - dann bleibt sie im Ort. Und in Maßbach bei Schweinfurt entstünde eine fusionierte Haupt- und Realschule. Eine, in der wirklich alle Schüler zusammen unterrichtet werden. Die Schule im Ort ist für die Bürgermeister überlebenswichtig geworden. Ohne Schule, keine Familien, ohne Familien keine Wirtschaft und keine Zukunft.

SPIEGEL ONLINE: Wieso schaut die erfolgreiche bayerische Wirtschaft dem schon so lange zu?

Wenzel: Dort ist man mit der Geduld am Ende. Solange der Nachwuchs gesichert ist, hält die Industrie still. Aber in den Zukunftsgutachten wird bereits gefragt, wo bis 2030 eine Million Hochqualifizierter zusätzlich herkommen sollen. So steht es im Prognos2030-Papier der Vereinigung des bayerischen Wirtschaft.

SPIEGEL ONLINE: Warum legt Bayern die Haupt- und die Realschule eigentlich nicht gleich zusammen?

Wenzel: Es gibt eine starke Realschulvertretung. Die hat zwar ein problematisches Menschenbild, weil sie die Realschule frei von Hauptschülern halten will. Diese Lobby hat aber auch viel Einfluss.

SPIEGEL ONLINE: Reicht der wirklich, um eine ganze Landesregierung am Nasenring zu halten?

Wenzel: Eigentlich nicht. Aber die CSU hat sich schulpolitisch selbst in die Zwickmühle gebracht: Wenn Sie den Wählern 46 Jahre lang erzählen, dass die Hauptschule ein famose Einrichtung ist, dann können Sie diese Schule nicht von heute auf morgen beerdigen. Jedenfalls nicht ohne Ansehensverlust. Schwenkt sie zugunsten des jungen bildungswilligen Akademikerpublikums um - dann vergrätzt sie ihre konservative Stammwählerschaft. Und umgekehrt. Aber die CSU ist selbst schuld. Sie hat 30 Jahre lang nichts für die Hauptschule getan. Jetzt ist es zu spät. In den Kommunen liegen über 100 Anträge für die Kooperation von Haupt- und Realschulen. Die Bürgermeister werden sich nicht mehr lange im Zaum halten lassen, wenn es Herrn Spaenle und der CSU nicht gelingt, das Schulsterben zu beenden.

Das Interview führte Christian Füller
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