Schulreform "Die Hauptschule ist nicht mehr zu retten"
Eigentlich ist diese Schule zum Scheitern verdammt: 75 Prozent ihrer Schüler kommen aus Familien, in denen die Eltern keiner geregelten Arbeit nachgehen. 80 Prozent der Jugendlichen sind ausländischer Herkunft. Hier verwechselt ein Vater von elf Kindern schon mal seine Söhne. Hier kommt eine türkische Mutter, die seit 17 Jahren in Deutschland lebt, mit einer Dolmetscherin in die Elternsprechstunde. Und dennoch: Die Geschichte der Carl-Friedrich-Zelter-Hauptschule ist eine Geschichte beispiellosen Erfolges.
Leiter Robert Hasse führt durch perfekt gefegte Flure, zeigt strahlend saubere Toilettenräume ohne Graffiti an den Wänden, erwähnt eine schuleigene Schach-AG und sogar einen Ruderclub. Er schlendert über den frisch gefegten Hof und deutet auf eine Ecke, wo das Fundament für einen Holzpavillion abgesteckt ist. Hier soll einmal ein Gemeinschaftshaus entstehen.
In Hasses Büro hängt eine Deutschlandfahne, der Schulleiter trägt Anzug und Krawatte, Bundespräsident Horst Köhler lächelt vom Bild über dem Schreibtisch. "Glauben Sie, ich mache das aus Patriotismus?", fragt er. Die Schüler sollen Respekt kriegen vor der Institution Schule. "Wir sind nicht streng, aber konsequent." Mit dieser Einstellung gewannen die Kreuzberger den Berliner Landespreis des Hauptschulpreises 2007 und rechnen sich gute Chancen auf den bundesweiten Sieg aus. Der Bundespräsident wird den Sieger im Mai bekannt geben.
Ein Erfolg, der Hasse dennoch nicht glücklich stimmt: "Ich bin nicht derjenige, der die Lanze für die Hauptschule bricht." Und dass er das sagt, verrät viel über den Zustand der Hauptschule.
Bildungsforscher wie Ernst Rösner vom Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung wissen längst: "Die Hauptschule ist am Ende." Das dreigliedrige Schulsystem schafft sich selbst ab. "Die Hauptschule hat keine Zukunft, weil die Eltern sie nicht wollen. Und die Eltern sind die wahren Schulpolitiker", führt Rösner als Hauptgrund an.
Produkt einer Negativ-Auslese
Umfragen des Instituts bestätigen: Nur noch knapp zehn Prozent befragter Grundschuleltern wollen ihr Kind freiwillig auf eine Hauptschule schicken. Die rund 5000 Hauptschulen in Deutschland sind damit das Ergebnis eines negativen Ausleseprozesses geworden.
Seit Jahren beobachtet Rösner eine Abwärtsspirale. Die Zahl der Arbeitgeber, die für einen Ausbildungsplatz mindestens den Realschulabschluss verlangen, steigt. Grund: Lehrstellen in den gewerblichen Branchen fallen weg, während der Dienstleistungssektor wächst. In modernen Ausbildungsberufen wie IT-Systemkaufmann oder Mediengestalter ist jedoch bereits fast jeder dritte Bewerber ein Abiturient, bestätigt das Bundesinstitut für Berufsbildung.
Gewinner dieser Entwicklung sind die Gymnasien, die trotz sinkender Geburtenzahlen beständig steigende Übergangsquoten verzeichnen. Ein Blick ins Ausland wird zum Blick in die Zukunft: In Schweden, Finnland und Australien haben nach OECD-Angaben 70 bis 80 Prozent der Schulabgänger die Studienberechtigung. In Deutschland sind es lediglich 40 Prozent. Auch die Realschulen spielen weiterhin vorn mit. Sie sind auf dem besten Weg, die Rolle der Hauptschule als Basisbildungsgang zu übernehmen.
Gemeinschaftsschulen: "Die Schlauen werden nicht dümmer, aber die Dummen besser"
Die Realschule ist jedoch nicht nur die deutlich attraktivere Alternative zur Hauptschule, weiß Rösner. Es kommt noch ein weiteres Problem hinzu. "Die Hauptschule ist in vielen Ländern in so einer schlechten Verfassung, dass sie selbst gar nicht mehr gewollt wird." Der Ruf als "Resteschule" und "Aufbewahrungsanstalt" für Lernschwache und Migrantenkinder, Gewaltmeldungen, schlechte Ausbildungsplatzchancen da seien Eltern nicht mehr bereit, ihre Kinder hinzuschicken.
Über 160.000 Schüler kehrten ihr seit dem Schuljahr 2001/2002 den Rücken, bestätigt das Statistische Bundesamt. Derweil sind die Übergangsquoten zur Realschule und zum Gymnasium kontinuierlich gestiegen.
"Nicht die Hauptschule ist krank, sondern das dreigliedrige Schulsystem", sagt Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung (VBE), selbst seit über zehn Jahren Direktor einer Hauptschule. Der jüngste Uno-Bericht des Menschenrechtsinspektors Vernor Munoz habe deutlich gezeigt, wo die Schwäche des deutschen Schulsystems liege: die frühe Aufteilung auf verschiedene Schulformen benachteiligt arme, lernschwache und Migrantenkinder. Weltweit verteilt außer Deutschland nur noch Österreich die Kinder so früh.
Gemeinschaftsschule als Lösung?
Die Zukunft könnte in einer Alternative zur dreigliedrigen Schulform liegen: in der Gemeinschaftsschule. Sie sieht ein gemeinsames längeres Lernen aller Schüler vor, zum Beispiel bis zur achten oder zehnten Klasse. Als erstes Bundesland hat Schleswig-Holstein die Einführung der Reformschule beschlossen; Hamburg will die Haupt-, Real- und Gesamtschulen zur "Stadtteilschule" vereinigen und neben den Gymnasien anbieten.
Alle Schüler würden dann in einen Topf geworfen werden, die Schwächsten bestimmten das Lerntempo, entgegen Kritiker des Gemeinschaftsschulmodells. "Die Schüler wären zu einem Drittel gut aufgehoben, zu einem Drittel überfordert und zu einem Drittel unterfordert", warnt zum Beispiel Josef Kraus vom Deutschen Lehrerverband. Studien, die das belegen, kann er nicht vorweisen.
Andere Bildungsexperten bezweifeln seine Sicht: "Wenn sie verschiedene Schüler mit unterschiedlichen Leistungsniveaus haben, werden die Schlauen nicht dümmer, aber die Dummen besser", sagt Rösner und nennt das den "Anregungsreichtum einer Lerngruppe".
Mehr Flexibilität, mehr individuelle Betreuung, mehr Offenheit nach oben zu höheren Schulabschlüssen fordern die Befürworter der Hauptschule. "Die Hauptschule darf keine Sackgasse sein", warnt Schulleiter Robert Hasse von der Zelter-Schule. Dann habe sie auch eine Zukunft.
Dem widersprechen die Bildungsexperten: "In Berlin gebe ich ihr maximal noch vier bis fünf Jahre", sagt Rösner. "In Bayern laufen die Uhren langsamer, da wird es noch etwas länger dauern. Aber auf Dauer ist diese Schulform nicht aufrecht zu erhalten." Auch Marianne Demmer von der GEW reiht sich da ein: "Die Schulform wird nicht zu retten sein."