Schulbusärger auf dem Land "Fünftklässler kommen nicht mehr hinein"

Weniger Schulen, seltene Busse, lange Wege: Für Familien auf dem Land werden Schulwege oft zur Belastung - und Elterntaxis zur Notlösung. Kultusministerien aber schieben die Verantwortung oft an die Kommunen ab.

Bei Familie Finke in dem Örtchen Räber in Niedersachsen klingelt der erste Wecker morgens um 5:30 Uhr. "Keine Minute zu früh", sagt Vater Mike Finke. Die mittleren Töchter, elf und zwölf Jahre alt, müssen sich dann schnell fertigmachen, frühstücken und zur knapp einen Kilometer entfernten Bushaltestelle laufen, damit sie pünktlich den Bus um 6:45 Uhr erwischen.

Inklusive Umsteigen pendeln die Mädchen morgens mehr als eine Stunde zur fast 40 Kilometer entfernten Kooperativen Gesamtschule und mittags wieder zurück - wenn es gut läuft. "Sie müssen nach der 6. Stunde den Bus um 13:08 Uhr bekommen, dann sind sie gegen 14:30 Uhr zu Hause", sagt Finke. "Aber da herrscht starkes Gedrängel, weil der Bus extrem voll wird. Fünft- und Sechstklässler kommen oft nicht mehr hinein."

Ein zweiter Bus komme zwar etwa zehn Minuten später, sagt Finke. Aber wenn seine Töchter den nehmen, müssen sie mehrfach umsteigen und zwischendrin anderthalb Stunden warten. Ankunft zu Hause: gegen 16 Uhr. Haben die Kinder nach der 7. Stunde Schulschluss, fährt gar kein Bus, der nächste kommt erst wieder nach der 8. Stunde. Bis dahin müssen sie die Zeit totschlagen und sind erst spätnachmittags wieder daheim.

"Für die Kinder ist das extrem belastend. Der lange Schulweg schlaucht", sagt Finke. "Meine Töchter schlafen oft frühabends erschöpft auf dem Sofa ein." Für Sport und andere Hobbys bleibe viel zu wenig Zeit. Die Fahrerei schränke den Tagesablauf der ganzen Familie extrem ein.

Auf dem Land fährt jedes dritte Kind Bus

Mit ihrem Schulbus-Ärger sind die Finkes keine Ausnahme. Wie viele Familien betroffen sind, wird statistisch allerdings nicht erfasst. Es gibt zwar etliche Studien dazu, wie weit und wie lange Erwachsene zum Arbeitsplatz pendeln, aber keine bundesweite Erhebung für Schüler. Daten liegen nur für einzelne Regionen oder Schülergruppen vor.

Der ADAC hat Ende 2017 mehr als 1000 Mütter und Väter zu Schulwegen von Grundschülern befragt und deutliche Unterschiede festgestellt: In ländlichen Gebieten muss demnach mehr als ein Drittel der Kinder einen mindestens zwei Kilometer langen Schulweg bewältigen, knapp ein Viertel eine Strecke von vier oder mehr Kilometern.

In Städten dagegen haben der Umfrage zufolge drei Viertel der Kinder einen Schulweg von nur bis zu zwei Kilometern. Dadurch gehen in Städten auch deutlich mehr Kinder zu Fuß zur Schule als in ländlichen Regionen. Hier fährt rund ein Drittel der Grundschüler mit dem Bus.

Zum Schulweg älterer Schüler hat das Forschungszentrum Demografischer Wandel an der Frankfurt University Daten erhoben. Es wertete Befragungen von gut 10.000 etwa 14-jährigen Schülern aus, und dabei kam heraus: 14 Prozent der Schüler sind weniger als zehn Minuten zur Schule unterwegs, aber 15 Prozent brauchen länger als 45 Minuten bis ins Klassenzimmer.

Langer Schulweg, häufiger Konzentrationsprobleme

Der Unterschied macht sich bemerkbar: "Jugendliche, die einen langen Schulweg zurücklegen müssen, klagen häufiger über Konzentrationsprobleme", sagt der Frankfurter Forscher Sven Stadtmüller. Sie seien häufiger gereizt und unzufriedener mit ihrer Gesundheit. Stadtmüller mahnt: Das Problem werde gerade auf dem Land künftig größer werden, weil immer mehr Schulen schließen und die Schulwege weiter würden.

Seit Anfang der Neunzigerjahre ist laut Statistischem Bundesamt allein die Zahl der allgemeinen, weiterführenden Schulen bundesweit deutlich zurückgegangen: von etwa 15.500 auf knapp 12.000. Ein Grund dafür waren zwischenzeitlich oder regional stark sinkende Schülerzahlen und eine Bildungspolitik, die auf zentrale, größere Schulstandorte statt den Erhalt von Dorfschulen setzte.

Beispiel Mecklenburg-Vorpommern: Hier schrumpfte die Zahl der Schulen seit 1992 auf fast ein Drittel: von 1894 auf 709. In Hohen Wangelin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte sei die Schule vor einigen Jahren abgerissen worden, sagt Torsten Zarnikow, der in dem Ort lebt und vier Kinder hat. Auf dem Sportplatz würden inzwischen Schafe grasen.

Für seinen zwölfjährigen Sohn und die sechsjährige Tochter bedeutet das: Sie müssen morgens um 6:30 Uhr an der Haltestelle in den Bus steigen, um zur mehr als 20 Kilometer entfernten Schule zu fahren. Ankunft: 6:56 Uhr.

"Es fährt morgens nur dieser eine Bus", sagt Zarnikow. "Wenn ein Kind den verpasst, muss es zu Hause bleiben." Bei den Entfernungen sei auch das Eltern-Taxi keine Option, schon gar nicht bei mehreren Kindern. "Es müsste mehr kleinere Schulen übers Land verteilt geben, statt wenige große Schulen", sagt Zarnikow, der auch Mitglied im Elternrat von Mecklenburg-Vorpommern ist.

Bis zu 60 Minuten für den Schulweg zumutbar

Das Bildungsministerium hält dagegen, sehr kleine Schulen würden in Mecklenburg-Vorpommern durchaus genehmigt und erhalten, wenn ansonsten unzumutbare Schulwege für Kinder und Jugendliche entstünden. Aber was ist zumutbar?

Bei Grundschülern hält die Behörde bis zu 40 Minuten pro Strecke für vertretbar, ab Klasse 5 bis zu 60 Minuten. Sie verweist zudem auf eine Befragung im Rahmen des Mikrozensus 2016. Demnach ist die große Mehrheit der Schüler in Mecklenburg-Vorpommern weniger als 30 Minuten unterwegs zur Schule.

Etwa jeder Zehnte braucht aber bis zu 60 Minuten. Bei den Berufsschülern fährt etwa ein Drittel bis zu 60 Minuten zur Schule, ein weiteres Drittel sogar länger. Dass viele Schüler zudem oft lange Wartezeiten haben, weil der Busverkehr nicht immer auf Unterrichtsbeginn und -schluss abgestimmt ist, wird in der Studie nicht berücksichtigt.

Beispiel Brandenburg: Man bemühe sich, auch kleinere Schulen zu erhalten, heißt es in der Bildungsbehörde. Aber mehrere Schulen an einem Standort, sogenannte Campuslösungen, hätten positive Synergieeffekte. Eine Fahrzeit von 90 Minuten pro Strecke sei für zumutbar.

"Das sehen wir Eltern natürlich anders", sagt Jan Alexy vom Landeselternrat Brandenburg. Er sagt, dass bei der Festlegung von Schulstandorten viel mehr berücksichtigt werden müsse, welche Wege damit verbunden seien. So sieht es auch Finke aus Niedersachsen. Der lange Schulweg seiner Töchter habe zwar viel mit der Wahl der Schulform zu tun, aber das nächste Gymnasium sei ebenfalls knapp 20 Kilometer entfernt, und an der näher gelegenen Oberschule könnten die Kinder nicht das Abitur machen.

Um die weiten Anfahrten für Kinder zumindest erträglicher zu machen, fordern die Eltern, dass der Busverkehr besser auf die Bedürfnisse der Schüler abgestimmt werden müsse. "Notfalls muss die Politik mehr Geld in die Hand nehmen, um diese teilweise unhaltbaren Zustände zu beseitigen", sagt Finke.

Die Bildungsministerien verweisen allerdings gerne auf die Kommunen, denn die seien für die Schülerbeförderung zuständig. Von zentraler Stelle wird der Schulweg-Ärger somit meist nicht angegangen.

Hier berichten Eltern von ihrem Schulweg-Ärger:

Und hier lesen Sie von überängstlichen Helikopter-Eltern auf dem Schulweg und bei der Einschulung.

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