Sitzenbleiber Nie wieder Ehrenrunden?

Die Bildungsgewerkschaft GEW will das Sitzenbleiben abschaffen, weil die Wiederholung einer Klasse nur zum Lern-Stillstand führe. Derweil fordern konservative Bildungspolitiker ein Ende der "Kuschelpädagogik" und mehr Strenge in der Schule - und alle berufen sich auf die Pisa-Studie.

Die Vergabe der Halbjahreszeugnisse rückt unaufhaltsam näher. Manche Schüler freuen sich darauf, ihren Eltern in wenigen Tagen die Noten präsentieren zu können, anderen graust es vor den Konsequenzen von Stubenarrest bis Nachhilfeunterricht. Und so schlagen Bildungspolitiker und Schulverwaltungen sanfte Töne an. "Bei schulischen Einbrüchen oder Rückschlägen sollten die Schüler ermutigt und angespornt, nicht verurteilt oder gar bestraft werden", sagte Peter Kauffold (SPD). Der Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern appellierte an "Verständnis und Toleranz" der Eltern. Das Land hat ein kostenloses Sorgentelefon eingerichtet, und auch in Berlin finden Schüler und Eltern ein offenes Ohr bei der Hotline des Landeschulamtes.

"Versetzung gefährdet" - diesen Vermerk will die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für immer aus den Zeugnissen tilgen. Jährlich bleiben bundesweit 250.000 Schüler sitzen, allein in Nordrhein-Westfalen sind es rund 70.000. Doch statt die Schüler eine "Ehrenrunde" drehen zu lassen, sollten die Kultusminister besser in "vorbeugende Förderung" investieren, meint GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer.

"Sitzenbleiben führt zu innerlichem Abschalten"

Spätestens seit der internationalen Pisa-Studie sei klar, "dass Sitzenbleiben nur schadet", meint Demmer. Mehrfach sei inzwischen wissenschaftlich belegt, dass das Wiederholen einer Klasse "nicht einmal einen individuellen Lernzuwachs in den Fächern bringt, die Grund der Nichtversetzung waren". Demmer: "In den meisten Fällen tritt ein Lern-Stillstand ein, weil auch in den übrigen Fächern lediglich Stoff wiederholt wird. Dies führt bei vielen Schülern zum innerlichen Abschalten."

Nach Angaben der GEW bleibt jeder vierte deutsche Schüler mindestens einmal kleben. Das sei nichts als Vergeudung der "Lern- und Lebenszeiten junger Menschen", sagte Marianne Demmer und kritisierte die Versetzungsordnungen der Bundesländer: In "aufgeblähten Paragrafen" regelten sie "bis ins Detail und gerichtsfest", unter welchen Voraussetzungen Schüler nicht versetzt werden könnten - "aber sie verlieren keine Silbe darüber, wie ein Förderprozess gestaltet werden kann."

Die Berliner GEW verwies zudem auf die hohen Kosten, die Sitzenbleiber verursachen. Das Aussortieren lernschwacher Schüler sei "pädagogisch wertlos", sagte der Landesvorsitzende Ulrich Thöne. Er forderte, die "durch die Wiederholer verschlungenen Summen besser in die individuelle Förderung der Kinder zu investieren". Der Landeselternausschuss lehnte den GEW-Vorschlag allerdings ab. "Dieses Mitschleifen hilft den Kindern überhaupt nicht, sondern erhöht womöglich allenfalls die Zahl der Schulverweigerer", so der Vorsitzende Peter Schmidt.

"Keine Fortsetzung des Kindergartens in der Schule"

Auch konservative Bildungspolitiker wollen das Sitzenbleiben beibehalten und berufen sich ebenfalls auf die Pisa-Studie. So forderte Sachsens Kultusminister Matthias Rößler die Rückkehr zum Leistungsgedanken und ein Ende der "Kuschelpädagogik". Die Lehrer müssten wieder mehr Mut zeigen, von ihren Schülern auch etwas einzufordern: "Wir brauchen eine leistungs- und kindgerechte Schule und keine Fortsetzung des Kindergartens in der Schule." Dazu gehöre auch ein klares Bekenntnis zu Zensuren. Die Notenvergabe erst ab der dritten oder vierten Klasse hält Rößler für einen Irrweg.

Unterdessen will Hamburgs Schulsenator Rudolf Lange den Lehrern mehr Sanktionsmöglichkeiten geben und Sekundärtugenden wiederbeleben. "Lehrer brauchen als Respektsperson mehr Möglichkeiten, notwendige Maßnahmen auch spontan einzusetzen", sagte der FDP-Politiker in einem Interview der "Welt am Sonntag". "Pisa lehrt uns auch, dass die so genannten Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit für Kinder und die Lernsituation sehr wichtig sind", so Lange weiter.

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