Erziehung "Bei Kindern hat das Smartphone nichts verloren"
SPIEGEL ONLINE: Herr Montag, in Großbritannien werden in Schulen immer mehr digitale Uhren angebracht, weil Schüler die analogen offenbar nicht mehr lesen können. Wird es in Deutschland auch bald soweit sein?
Christian Montag: Ich kann mir vorstellen, dass es in Deutschland ähnlich kommen wird. Kinder und Jugendliche werden wahrscheinlich bald keine klassischen Zifferblätter mehr anschauen. Vielerorts wird die Zeit nur noch digital angezeigt. Ich halte es aber trotzdem für wichtig, dass Kinder lernen, analoge Uhren zu lesen.
SPIEGEL ONLINE: Warum? Das Smartphone zeigt die Zeit doch auch an.
Montag: Smartphones können den Tagesrhythmus durcheinander bringen. Wenn Kinder und Jugendliche ins Handy schauen, um zu wissen, wie spät es ist, entdecken sie oft eine neue WhatsApp-Nachricht oder etwas Interessantes auf Instagram. Das lenkt sie ab. Sie sind dann eine Weile damit beschäftigt, zu antworten und wissen die Uhrzeit am Ende gar nicht, weil sie vergessen haben, dass sie genau diese nachschauen wollten. Außerdem gibt es noch genügend klassische Zifferblätter, die es im Alltag zu entschlüsseln gilt.

Christian Montag, 40, ist Professor für molekulare Psychologie an der Universität Ulm und Gastprofessor an der UESTC in Chengdu, China. Er erforscht, wie digitale Welten den Menschen verändern und, wie Smartphones und das Internet die Gesellschaft beeinflussen.
SPIEGEL ONLINE: Warum können Kinder und Jugendliche ihre Smartphones nur so schwer aus der Hand legen?
Montag: Mit den Geräten erhalten sie ständig neue Informationen, besonders aus der eigenen Peer-Group. Wenn sie die nicht bekommen, haben sie das Gefühl, sie könnten etwas verpassen. Zudem sehen sie, wo sie im Vergleich zu anderen stehen und wie viel Likes sie auf Social-Media-Kanälen bekommen. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert wird, wenn Menschen Likes bekommen. Das fühlt sich gut an. Und das, was sich gut anfühlt, wiederhole ich gern im Alltag. So kommen Kinder schnell auf die digitale Droge drauf und bleiben oft hängen.
SPIEGEL ONLINE: Welche Funktionen machen besonders süchtig?
Montag: Viele Computerspiele auf dem Handy sind so angelegt, dass sie die Nutzer - besonders Kinder - lange beim Spielen halten. Und auch die sozialen Medien treiben schon Kinder, besonders aber Jugendliche an, ihr Smartphone nicht mehr aus der Hand zu legen. Besonders problematisch ist, dass soziale Medien sozialen Druck aufbauen. Das fängt schon bei den zwei blauen WhatsApp-Häkchen an.
SPIEGEL ONLINE: Wie das?
Montag: Die Nutzer wissen durch die Häkchen-Funktion, dass der andere ihre Nachricht gelesen hat - aber wenn er nicht gleich antwortet, fragen sie sich, warum er das nicht tut. Viele Jugendliche halten das nicht aus. Dabei ist ein Großteil der Kommunikation auf den sozialen Kanälen belanglos. Die Nutzer schicken sich Nachrichten hin und her, die oftmals nur aus einem einzigen Emoji bestehen.
SPIEGEL ONLINE: Ab wann sollten Kinder Smartphones haben?
Montag: Nicht vor dem zehnten, vielleicht sogar nicht vor dem zwölften Lebensjahr. Auch dann müssen die Eltern schauen, ob es überhaupt sinnvoll ist. Digitale Technologien haben in der Kindheit nichts verloren. Kinder müssen raus gehen und spielen, herumtollen und toben. Dann lernen sie, dass sie nicht immer die stärksten sind, sondern auch mal unterliegen und sie stärken ihre motorischen Fähigkeiten, aber auch soziale Kompetenzen. Das kann ein Smartphone nicht ersetzen.
SPIEGEL ONLINE: Was können Eltern tun, damit ihre Kinder nicht den ganzen Tag am Smartphone hängen?
Montag: Bei Kindern hat das Smartphone nichts verloren. Bei Jugendlichen wird es aber schwer, es zu verbieten. Hier haben fast alle ein Smartphone und wer zum Beispiel nicht in einer WhatsApp-Gruppe ist, wird zum Außenseiter. Eltern sollten schauen, dass ihre Kinder und deren engste Freunde im besten Falle die gleichen Nutzungsregeln befolgen.
SPIEGEL ONLINE: Wie könnten die aussehen?
Montag: Eltern könnten etwa erlauben, das Smartphone jeden Tag nur von 18 bis 19 Uhr zu nutzen. Und natürlich erst dann, wenn alle wichtige Aufgaben für den Tag erledigt sind.
SPIEGEL ONLINE: Und Sie glauben, das klappt?
Montag: Ja, wenn alle im Freundeskreis die Regeln einhalten. Schließlich wird das Gerät auch uninteressanter, wenn alle draußen spielen und keiner am Smartphone hängt. Hier zeigt sich schon, dass andere Aktivitäten attraktiver sein müssen, als Zeit mit dem Smartphone zu verbringen.
SPIEGEL ONLINE: Was raten Sie Eltern, wie sie mit dem Smartphone umgehen sollten?
Montag: Sie sollten vor allem gute Vorbilder sein. Schon, wenn die Kinder noch sehr klein sind, passiert es, dass Eltern die ganze Zeit auf ihr Handy schauen. Zusätzlich sieht man häufig Eltern, die auf ihr Smartphone gucken, während ihre Kinder gerade auf dem Spielplatz sind. Sie vernachlässigen so den Kontakt zu ihren Kindern und achten gar nicht mehr darauf, ob es ihnen gut geht.
SPIEGEL ONLINE: Was wäre denn ein vorbildliches Verhalten von Eltern?
Montag: Es ist nicht schlimm, wenn sie ab und zu mal auf ihr Smartphone gucken. Aber wenn sie das die ganze Zeit tun, dann schon. Kinder lernen zudem am Modell. Wenn Mami und Papi immerzu am Smartphone hängen, machen sie das nach. Eltern müssen ihr Nutzungsverhalten deswegen ebenso strukturieren. Ich habe mich auch schon dabei ertappt, wie ich auf der Couch zum Tablet griff, als ich mein Baby auf dem Arm hatte. Diese Zeit ist für eine direkte Interaktion mit meinem eigenen Nachwuchs weg.
SPIEGEL ONLINE: Geben Sie mal ein paar praktische Tipps, die jeder sofort anwenden kann.
Montag: Sie könnten Ihre Smartphones beispielsweise nur zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten nutzen - etwa im Arbeitszimmer. Sie könnten auch wieder eine Armbanduhr tragen und sich einen klassischen Wecker kaufen - und somit eine digitale Freizone im Schlafzimmer schaffen. Menschen, die eine Armbanduhr und einen Wecker haben, schauen wesentlich weniger aufs Smartphone als andere. Wer sein Smartphone als Wecker verwendet, lässt sich dazu verleiten, bis tief in die Nacht alten Freunden auf Facebook "hinterher zu spionieren".