Spitzen-Unterricht Wie Kanada zu seinem Schulwunder kam
Wenn es schwierig wird in Klasse 1, dann muss Baby Thomas herhalten. Thomas ist inzwischen zwölf Wochen alt, jeden dritten Mittwoch liegt er auf einer giftgrünen Decke im Kreis der Schüler von Cindy Tetz. Die beugen sich über ihn, fassen seine Hände und Füße an und untersuchen, was Thomas seit seinem letzten Besuch gelernt hat. Kann er schon laufen? Sprechen? Wenigstens krabbeln?
Thomas ist das "Empathiebaby" der Erstklässler der Balwin School in Edmonton, Kanada. Jeden Mittwoch steht bei den Mädchen und Jungen Empathie auf dem Stundenplan. Die 22 Kinder haben eine Art Bedienungsanleitung für Baby Thomas geschrieben, die hängt jetzt an der Wand. Die linke Spalte der Tabelle beschreibt das Verhalten von Thomas, die rechte mögliche Ursachen dafür und was Thomas helfen könnte.
Der Direktor - Mischung aus Manager und Entertainer
Viele der Kinder aus der ersten Klasse haben jüngere Geschwister, sie sollen durch Thomas lernen, mit ihnen umzugehen und sich in andere Menschen einzufühlen. "Was meint ihr, wie sich Thomas fühlt, wenn ihr ihm weh tut und er sich nicht wehren kann?", fragt Lehrerin Tetz. Ein privater Verein ermöglicht, dass Empathie in Balwin auf dem Stundenplan steht, und kümmert sich um die Leihbabys. "Die Reaktionen der Kinder sind enorm: Sie sind weniger aggressiv und gewalttätig. Auch die hyperaktiven Schüler werden ruhiger, wenn Thomas in der Nähe ist", so Tetz.
Die Balwin-School liegt unauffällig, lang und flach an der 132 Avenue in einem der ärmeren Viertel von Edmonton, wo viele Alleinerziehende wohnen und es große Appartmentblöcke gibt. In Kanada steht das eigene Häuschen für Unabhängigkeit und Erfolg - aber die Balwin-Schüler wohnen in Appartments. Fast jeder zweite der 475 Schüler ist entweder kein englischer Muttersprachler oder hat "besondere Bedürfnisse" - ist geistig oder körperlich behindert oder braucht wegen anderer Krankheiten individuelle Förderung.
Rektor Dean Michailides, 44, ist ein unterhaltsamer Mann mit energischem Schritt. Wenn er über die Flure von Balwin geht, laufen Kinder auf ihn zu, klammern sich an seine Beine, fallen ihm um den Hals. Michailides kennt all ihre Namen. "Oh, ein Cowboy", sagt er zu einem properen Mädchen im Westernoutfit. Michailides ist kein gewöhnlicher Direktor, sondern eine Mischung aus Jungunternehmer und Entertainer. Er leitet keine Schule, er managt sie. "Diese Schule ist eine der besten in Kanada, helft mit, dass das auch so bleibt", steht als Mahnung auf einem gusseisernen Schild neben der Eingangstür.
Individuelle Förderung, Eltern als Verbündete
Plakate werben knallbunt und in riesigen Lettern für den Spaß am Lernen: "Believe you can achieve" ("glaub daran, dass du es schaffen kannst"). Oder "Success is impossible if you fail to try" (du kannst kannst keinen Erfolg haben, wenn du es nicht versuchst"). Am Elternbrett hängen Dutzende Angebote von Sprach- und Musikkursen; ein Schaubild mit Pfeilen und Kreisen erklärt, nach welchen Kriterien die Lehrer die Leistungen der Schüler bewerten.
An kanadischen Schulen versucht man, das Engagement der Mütter und Väter nicht auf den Milchdienst zu beschränken, sie nicht als nörgelnde Besserwisser zu begreifen, sondern als Verbündete bei der Erziehung ihrer Kinder. In Balwin stehen die Türen zu den Klassenzimmern offen, die Lehrer tragen Headsets wie die Moderatoren einer Fernsehshow. "Entscheidend ist nicht, wie viele Kinder in einer Klasse sitzen, sondern wer vor der Klasse steht", sagt Michailides. Das klingt gut. Fast zu gut, um wahr zu sein.
Der kanadische Weg: Integrieren kann sich nur, wer eine Heimat hat
Kanadische Schulen sind Gesamtschulen: Schwache, begabte, geistig und körperlich behinderte Kinder werden gemeinsam unterrichtet, sollen aber individuell gefördert werden. Jeder Schüler bekommt einen maßgeschneiderten Lehrplan und im Idealfall die nötige Hilfe, um im Unterricht nicht den Faden zu verlieren. Erst Zehntklässler werden in den Hauptfächern in akademisch und praktisch ausgerichtete Gruppen geteilt. Doch das braucht viele Lehrer, und es verlangt ihnen viel ab.
Michailides kann sein Budget selbst verwalten, rund vier Millionen Dollar pro Jahr. Sind alle Gehälter, Licht- und Heizkosten bezahlt, bleiben etwa 100.000 Dollar, die der Rektor direkt in Aus- und Fortbildung seiner 35 Lehrer investieren kann. "Wir haben keinen Einfluss darauf, aus was für Familien die Kinder kommen, die Weiterbildung der Lehrer ist die einzige Sache, dir wir kontrollieren können."
Am 30. November blieb Balwin deshalb geschlossen: Am "professional development day" bespricht Michailides mit seinen Kollegen die pädagogischen Vorsätze für das kommende Jahr. Wer sich im Umgang mit Laptop, Beamer und Internet schult und sich auf den neuesten Stand der Hirnforschung bringt, um das Verhalten der Schüler besser zu verstehen, bekommt in Kanada mehr Gehalt. Und wer an keiner Fortbildung teilnimmt, ein Problem.
Mehr Verantwortung für die Schulen
Häppchenweise streut Michailides seine Philosophie ein, seinen Masterplan für das Unternehmen Schule. "Die Frage, die wir uns immer stellen müssen: Ist das, was wir tun, im Interesse des Kindes? Wer versucht hier, Gott zu spielen? Wenn wir alle zur gleichen Zeit an einer Linie los laufen, können wir dann alle zur gleichen Zeit ankommen? Können wir nicht."
Aziz sitzt an einem kleinen Tisch und strahlt. Eine reguläre deutsche Schule könnte er nicht besuchen. Aziz ist vier, kommt aus Kurdistan, spricht kein Englisch und leidet unter dem Downsyndrom. Jeden Morgen begleitet ihn seine Mutter, spielt mit ihm und den anderen Kindern der Vorschule. Sie beugen sich über ein Puppenhaus, stapeln buntes Plastikgeschirr, ein Sprachwirrwarr füllt den Raum. Die Mädchen und Jungen kommen aus dem Sudan, aus Somalia, aus Kurdistan - und sprechen in ihren Muttersprachen. Die Klasse hat vier Lehrerinnen, aber nur Lyndsey McDougall ist Kanadierin, ihre drei Kolleginnen stammen aus dem Sudan, Somalia, Kurdistan.
Eine Englischklasse also? Im Gegenteil. In einem Pilotprojekt versucht man in Balwin, die Kinder in ihrer Muttersprache an die Schule und das Lernen zu gewöhnen. "Wir wollen, dass die Kinder einen Bezug zur Schule haben, Routine bekommen, sich wohlfühlen, Spaß am Lernen haben und lernen, ihre eigene Kultur zu schätzen", sagt McDougall. Es ist ihre erste Stelle nach der Uni, ihr persönliches Pilotprojekt.
Kein Aussortieren, alle lernen gemeinsam
Integration bedeutet in Kanada nicht, die eigene Herkunft möglichst schnell hinter sich zu lassen. Im Gegenteil: Nur wer seine Muttersprache beherrscht, kann später gut Englisch sprechen - so die Erfahrung. Nur wer seine eigene Kultur schätzt, kann sich in der neuen zurechtfinden. Die Lehrer animieren die Eltern, zuhause mit den Kindern die Muttersprache zu sprechen, aber sie animieren ihre Schüler auch, gemeinsam mit den Vätern und Müttern englische Texte zu lesen.
"Age appropriate placement" (altersgemäße Einordnung) heißt das zweite Wundermittel der kanadischen Schulerziehung. Demnach kann nur gut lernen, wer die Chance hat, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen in seinem Alter zu lernen. Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Deutschland heißen sie Problemkinder werden nachmittags gefördert, verbringen aber den Schultag überwiegend in ihrer Klasse.
Speziell ausgebildete Lehrer helfen den Schülern im Rahmen des "Englisch als Zweitsprache"-Programms, möglichst schnell das Sprachniveau ihrer Altersgenossen zu erreichen. Kinder mit Downsyndrom oder Autismus machen mit den anderen Sport, gehen mit in den Musik- oder Kunstunterricht.
"Bildung und Erziehung drehen sich immer um Menschen. Wir müssen uns darum kümmern, wie wir Menschen aufrichten und nicht darum, wie wir sie zerstören. Schüler und Lehrer", sagt Michailides wieder einen seiner Kalenderblatt-Sätze und erwartet keine Erwiderung.
Aber Balwin ist ja auch eine Vorzeigeschule. Auch in Kanada.