Leiden und Hoffen im Ballettinternat Auf der Spitze

Träume platzen, Karrieren beginnen: Wer seine Jugend an einer der besten Ballettschulen der Welt verbringt, muss leidensfähig sein - und ein Ziel haben. Ein Besuch in Berlin-Prenzlauer Berg.

Es tut so weh. Die Sehnen, die Muskeln, die Füße. Katharina Nikelski, 16, guckt an sich herunter. Ihre Füße. Sie lächelt. "Alles ist vergessen, sobald man auf der Bühne steht und seinen Traum lebt."

Seit sie fünf Jahre alt ist, tanzt sie Ballett. Seit sie zehn ist, weiß sie: Sie will Profi werden. Inzwischen merkt sie, wie viel Verzicht dieser große Plan bedeutet. Aber aufzuhören war nie eine Option: "Ich habe doch schon so viel reingesteckt, so viel geweint."

Als Katharina mit zehn Jahren aus dem Berchtesgadener Land an die Staatliche Ballettschule in Berlin  kam, fiel sie sofort auf mit ihrer Ausdrucksstärke, ihrem Talent, ihrer Leistungsbereitschaft. Jeweils zwölf Stunden ist Katharina an sechs Tagen in der Woche mit Schule und Tanz beschäftigt, danach lernt sie für Klausuren.

Eine reflektierte junge Frau, die weiß, was sie kann, die sich aber nicht dazu hinreißen lassen würde, damit anzugeben. "Mit 16 ist es am schwierigsten", sagt Katharina, "da muss man sich wirklich entscheiden: Die anderen gehen auf Partys, ins Kino, haben einen Freund. Ich trainiere."

Für diese Schule der zukünftigen Tanz-Elite der Welt, einem großzügigen Bau mit viel Glas und neun Ballettsälen in Berlins Prenzlauer Berg, verlassen Kinder und Jugendliche aus der ganzen Welt ihre Familien, ihre Heimat.

Jeder Tag beginnt mit der großen Kunst des Balletts, montags bis samstags steht auf dem Stundenplan das Hauptfach "Klassischer Tanz", in dem Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet werden: Fouettés, battement tendu, battement fondu, adagio, pirourettes - 90 Minuten lang Drehungen, auf die Spitze, Arme strecken, Arme schließen, Arme öffnen, das Spielbein vor dem Körper strecken, die Fessel an die Nasenspitze.

Danach folgen Kurse wie "Spitzentraining", "Künstlerische Gymnastik" oder "Tänzerische Darstellung", wo Anmut, Fantasie und Improvisation gelehrt werden. Hinzu kommen Proben für die vielen Auftritte - und natürlich noch der ganz normale Schulunterricht.

Ab der fünften Klasse wohnen die Ballettschüler im angeschlossenen Internat und gehen in die angeschlossene Schule, die eine ungewöhnliche und in Deutschland wohl einzigartige Ausbildungskombination anbietet.

Ab der elften Klasse sind die Schüler auch an der renommierten Berliner "Ernst Busch"-Schauspielschule eingeschrieben und machen dort parallel zum Unterricht an der Ballettschule den Bachelor of Arts in Bühnentanz - und das geht sogar unabhängig davon, ob sie das Abitur machen oder nicht. Wenn sie die Schule beenden, haben sie also nicht nur den Berufsabschluss Tänzer, sondern auch bereits einen Studienabschluss. Wenn sie die Schule beenden.

Sebastian Hänel

Jedes Jahr Ende März finden die sogenannten Lernerfolgskontrollen statt. Wer die Tests nicht besteht, muss gehen. Manchmal bleibt von maximal 50 Schülern pro Jahrgang nur die Hälfte.

Manche Jugendliche gehen freiwillig, andere kommen hinzu - 300 Mädchen und Jungen besuchen derzeit die Ballettschule. "Viele Träume zerplatzen hier", sagt Trainerin Katja Will, 37. Will, pinkfarbene Turnschuhe, enge Jeans mit Löchern, Glitzernagellack und Kurzhaarschnitt, war selbst Schülerin hier. Sie weiß: Die Ausbildung ist hart, ja, und danach wird es noch härter. "Wir kriegen zwar die meisten Schüler irgendwo unter", sagt sie, "aber gut sein reicht nicht, sie müssen sehr gut sein."

Die Sonne scheint, im Studio 5 sind die schwarzen Vorhänge zugezogen. Klassischer Tanz, zweites Ausbildungsjahr. Eine Pianistin spielt Improvisationen der Annen-Polka von Johann Strauss. Die Zwillinge Sophie und Camille und ihre Mitschülerinnen der sechsten Klasse stehen, aufgeteilt nach Körpergröße, auf den Zehenspitzen. Die schmalen Körper zittern vor Anstrengung, Rippen zeichnen sich ab durch die hellblauen Ballettanzüge, sie heben ihr Kinn, lächeln, sie wissen: Die Augen müssen strahlen.

Die Lehrerin ermahnt ein Mädchen, ihre Socken sind nicht ordentlich umgeschlagen. Nach dem Kurs hat die Klasse 45 Minuten Ballettgymnastik, um Bein-, Arm-, Bauch- und Rückenmuskeln zu stärken und zu dehnen. Auch Akrobatik gehört dazu: Radschlag, Überschlag, Salto. Die Schülerinnen trainieren Barfuß, an vielen Zehen kleben Pflaster.

Gregor Seyffert ist der Künstlerische Leiter der Schule, er ist preisgekrönter Tänzer, Choreograf, Regisseur - und war, noch zu DDR-Zeiten, selbst Schüler hier. "Ballett ist ein Hochleistungssport", sagt er, "und dabei körperlich viel härter als manch andere Spitzensportart." Er habe selbst jahrelang mit Schmerzmitteln getanzt, mit jenen, die man nur auf Rezept bekommt.

Pflaster und Salben stehen auf dem Nachttisch in dem aufgeräumten Zimmer von Camille und Sophie. Bärchenbettwäsche, Kinder- und Familienfotos über dem Bett: Die heute Zwölfjährigen als Babys im Arm der Mutter, als Kleinkinder, als Schulkinder. Hier beginnen ihre Tage um 6 Uhr morgens. Nach dem Aufstehen dauert es allein eine Dreiviertelstunde, um sich nach Schulvorschrift korrekt zu frisieren: Der Dutt wird mit 37 Haarnadeln fixiert, dann wird ein kleines Netz darübergesteckt.

In ihrem ersten Jahr an der Schule gehörten die Zwillinge noch zu den schlechteren Schülerinnen. Sie schoben zusätzliche Übungsstunden ein, trainierten auch abends, wurden besser. Und achten auf ihre Maße. Camille und Sophie sind beide 1,39 Meter groß, beide wiegen 30 Kilo. "Ein paar Lehrer finden, wir hätten noch ein bisschen Babyspeck", sagen sie.

In ihrem Kühlschrank steht ein Joghurt. Brot am Abend verkneifen sich die beiden meistens und auch Pizza, ihr Lieblingsessen. Nur wenn sie am Wochenende nach Hause nach Potsdam fahren, backe ihre Mutter, eine ehemalige russische Ballerina, manchmal Pizza. "Aber mit ganz dünnem Teig."

Essen ist ein wichtiges Thema für die Schülerinnen, genau wie ihr Gewicht, das, so die Schule, "bei augenscheinlich erkennbaren Abweichungen vom altersgerechten tänzerischen Erscheinungsbild" mithilfe von Ernährungsberatung und regelmäßigem Wiegen durch die Schule kontrolliert wird.

Auf der Mittagskarte in der Mensa stehen: Königsberger Klopse mit Kartoffeln, Gemüseauflauf oder Salat. Für zwischendurch gibt es Obst und Twix, Küchlein und Nuss-Nougat-Croissants. Wenn aber fünf junge Mädchen nach einem langen Tag gemeinsam zu Abend essen, haben sie sich vom Büfett genommen: Suppe, Gurkensalat, Bananen, gekochte Eier und, wenn überhaupt, Schwarzbrot. Ein Mädchen fotografiert mit ihrem Handy alles, was sie isst. Die Bilder muss sie an ihre Mutter in Japan schicken. "Sie sagt, dass ich viel Gurkensalat essen soll", sagt das Mädchen und zuckt mit den Schultern.

Es seien nicht nur die Eltern, die meisten Kinder machen sich den Druck selbst, sagt eine Mitarbeiterin der Schule. "Sie kriegen Heulkrämpfe, wenn sie mal krank sind und nicht trainieren können." Einerseits. Andererseits: Wer dranbleibt, wer auch während der Pubertät durchhält, hat - im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen - ein klares Ziel. Und eine Leidenschaft, die Kopf, Körper und Geist erfüllt.

Tagsüber halten sich die Schüler gegenseitig die Türen auf, grüßen ihre Lehrer höflich, lachen. Die Stimmung ist ruhig und konzentriert. Den Konkurrenzdruck spüren manche erst nachts. "Ich wache zwischen 3 und 4 Uhr morgens auf", erzählt eine Elfjährige, "dann liege ich bis 6 Uhr wach."

Dieses Problem hat sie seit einem Albtraum: "In meinem Traum waren meine Mitschülerinnen und Erzieher in meinem Zimmer, doch sie weckten mich erst um 6.59 Uhr, eine Minute vor Trainingsbeginn. Ich rannte panisch umher, um mich schnell fertig zu machen. Es war ein komisches Gefühl, dass alle da waren, aber keiner mich geweckt hat."

Katharina Nikelski spürte den Neid der anderen zum ersten Mal, als sie die Hauptrolle in der großen Schulaufführung "Der kleine Prinz" bekam. "Meine Mitschülerinnen, mit denen ich ja auch befreundet war, wurden plötzlich anders, sie redeten nicht mehr so viel mit mir, grenzten mich aus", sagt sie.

Sebastian Hänel

Mittlerweile hat die ehemalige Einserschülerin eine Klasse übersprungen, und was "die kleinen Mädchen" sagen, interessiert sie nicht mehr. Die Abiturklasse hat Katharina abgebrochen, die Zeit reicht nicht. Dafür könnte sie, davon sind ihre Lehrer überzeugt, es wirklich schaffen: eine Profikarriere am Royal Ballett in London, wo sie unbedingt tanzen will.

Koordination: Jule Lutteroth

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