
Junge Straßenmusiker: "Man kommt an alle Menschen ran"
Straßenmusiker "Wir sind jung, wir können es uns ungemütlich machen"
14.32 Uhr - Tourneeauftakt
Der U-Bahn-Ausgang am Jungfernstieg hat eine Rolltreppe, zum Glück. Zwei junge Männer fahren die Treppen hoch, sie sehen genauso fröhlich aus wie die bunten Mülltonnen, die sie hinter sich herziehen. Es soll ein großer Tag werden, der Tourneeauftakt sozusagen, in dieser schönen Stadt, auf dieser berühmten Brücke.
"Hier in Hamburg sitzt den Leuten das Geld locker", hofft Elias. Auch Luis grinst: "Und sie sind nicht so zurückhaltend wie in Leipzig, nicht so gestresst wie in Frankfurt, nicht so übersättigt wie in Berlin."
Elias und Luis, beide 20, einer klein, einer groß, wissen, wovon sie sprechen. Es ist ihr zweiter Sommer auf der Straße und ihr zigster als Musiker. Eigentlich habe er "schon immer" Musik gemacht, erinnert sich Elias, der kleine Blonde. Die Zusammenarbeit mit Luis, der nicht nur von Weitem aussieht wie der junge Jimi Hendrix, begann vor fünf Jahren in Neubrandenburg, "da kam Luis neu in meine Französischklasse".
Gleich am ersten Nachmittag wurde der erste gemeinsame Song aufgenommen. Wütender Rap war das, jede Silbe und jeder Ton aus der eigenen Feder. Alles andere taugt, da sind sich die neuen Freunde einig, nur zur hochnäsigen Verachtung. Genau wie diese unfassbaren Castingshows, die damals schon boomen. "Es ging uns ja nicht darum, berühmt zu werden, sondern darum, sich selbst gut auszudrücken, auszuschütten." Und wenn das Ausdrücken und -schütten gelang, dann belohnten sich Elias und Luis im Kinderzimmer mit Kräutertee-Apfelsaft-Gemisch und Schokobutterkeksen.
14.57 Uhr - Wackelkontakt am Keyboard
Der Hamburger Jungfernstieg hält heute nicht, was sich die Musiker versprochen hatten. Es ist windig, der Aufbau langwierig. Ein Kabel für die E-Gitarre fehlt, am Keyboard-Stecker ist ein Wackelkontakt. Der Generator hat auch nicht mehr viel Sprit. Aber vier Zuschauer sind schon stehen geblieben. Und warten, was hier wohl noch so passieren wird.
"Guaia Guaia" heißt die Band, die die beiden jungen Männer in ihren Kisten hinter sich herziehen. Es ist eine Art Elektro-Pop-Reggae mit eingängigen deutschen Texten, meistens geht es irgendwie um ein hippiemäßiges Lebensgefühl. "Wir sind nicht solche Revoluzzer, wie jeder meint, einer zu sein", sagt Elias. "Aber wir sind gegen Isolation und Angst. Und für die Liebe."
15.15 Uhr - seltsamer Neid, auf den ersten Blick
Noch immer kein sonniger Sound auf dem Jungfernstieg, dafür Regentropfen auf dem Laptop. Der Abbau dauert nur ein paar Minuten, dann sind die wertvollen Instrumente wieder wasserdicht verpackt und die Kisten verschnürt. Es folgt eine kurze Strategiebesprechung, "am besten Richtung Fußgängerzone, vielleicht dann noch weiter zum Hafen". Luis kramt seine alte Windjacke hervor, Elias zieht die Bändel seiner fleckigen Kapuzenjacke fest, "ich hab schon wieder kalte Ohren".
Statistisch gesehen gehören Luis und Elias zu dem besorgniserregenden Teil ihrer Generation: arm, männlich, aus der ostdeutschen Provinz, ohne Abitur oder Ausbildung. Sie wissen das, schon weil ihr halber Freundeskreis immer noch rat- und perspektivlos in Mecklenburg festhängt. "In gewisser Weise gehören wir natürlich auch dazu", sagen sie. Andererseits kennen sie kaum jemanden, der so glücklich ist, wie sie es sind. "Wir treffen oft Leute, die uns sagen, dass sie uns beneiden."
Auf den ersten Blick ist das ein seltsamer Neid. Elias und Luis haben keine Wertsachen, kein Geld, keinen Führerschein, kein Auto. Was sie haben, sind ein paar Instrumente, zwei bunte Mülltonnen, ein Rucksack mit Wechselwäsche, zwei alte Schlafsäcke. Und eine unverschämte Zufriedenheit, die ihnen ununterbrochen aus den Augen blitzt und in den Mundwinkeln zuckt.
Vor zwei Jahren, am Tag von Luis' 18. Geburtstag, haben sie Neubrandenburg den Rücken gekehrt und sind südwestwärts getrampt, Richtung Frankfurt am Main. Seitdem gab es WG-Zimmer und Zivildienststellen, Aushilfsjobs und nächtliche Sprayaktionen. Aber immer nur einen Masterplan: die Musik.
15.38 Uhr - der Generator wird betankt
Ihre umgebauten Tonnen haben die beiden vor einer Bäckerei in der Fußgängerzone stehen gelassen, jetzt muss erst mal der Generator betankt werden. Eine Tankstelle ist nicht in Sicht, und einen Kanister besitzt das Duo auch nicht. Wie immer stiefeln sie nach kurzer Besprechung einfach los, links die Mönckebergstraße runter. Während sie weg sind, stehen die Tonnen im Nieselregen. Ein Obdachloser betastet sie vorsichtig und nutzt sie dann zum Sortieren seiner Straßenmagazine. Als die beiden Besitzer wiederkommen, hat er etliche Fragen. Sie werden geduldig beantwortet.
"Kommunikation ist wichtig", sagt Luis später, als er das Benzin aus einer alten Granini-Flasche in die Tanköffnung einfüllt. Er meint damit nicht die Pflege seiner myspace-Seite . Auch auf ihre Handys gucken die beiden selten, sie haben sowieso nur noch eins, das funktioniert, und oft vergessen sie es aufzuladen, wenn sie unterwegs sind. Durch fremde Städte navigieren sie - mündlich. Sie fragen alle und jeden, den Taxifahrer, den Typ mit der Umhängetasche, den Herrn im Anzug.
Wortkarge Antworten kriegen sie selten, nette Gespräche ergeben sich oft. Und wer die bunten Gestalten neugierig taxiert, der kriegt auch mal eine CD zugesteckt. So wie der Jugendliche, der seit zwei Minuten schüchtern die Tonnen umschleicht. "Da, schenk ich dir", sagt Elias. Der Junge ist fast zu überrascht, um sich zu freuen.
Genau deshalb wollten sie auf die Straße. "Man kommt an alle Menschen ran", sagt Luis, "egal, ob das ein Rocker ist oder jemand, der eigentlich nur Mainstream hört." Die zufälligen Zuhörer haben kein Geld bezahlt und erwarten nichts Bestimmtes. Aber sie sind bereit, stehen zu bleiben, sich überraschen zu lassen. Und ein "Guaia Guaia"-Livekonzert hat ausreichend Überraschungspotenzial, deutlich mehr als Blockflöte und Quetschkommode. Schon weil Elias so zappelig tanzen und Luis beim Posaunespielen so exaltiert seine Haare werfen kann.
Eine ausführliche Website haben die Jungs natürlich trotzdem, und ihre Lieder verkaufen sie auch über iTunes. Aber das Netz ist nur Mittel zum Zweck, nicht Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit. Die virtuellen Möglichkeiten halten die beiden ohnehin für begrenzt: "Es gibt Tausende unbekannter Bands, und Veranstalter kriegen Hunderte E-Mails am Tag."
Bei ihnen sei es genau andersherum, sie sind vor Ort, werden gesehen, angesprochen. Es klingt deutlicher Stolz mit, als sie ihre diesjährigen gebuchten Auftritte aufzählen. "Oder manchmal rollen wir auch einfach irgendwo rein." Auch aus solchen Spontanbesuchen haben sich schon kleine Konzerte ergeben. "Und eine Kiste Freigetränke gab's auch noch."
"Wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren" - alles für den großen Traum von der Straßenmusik
16.29 Uhr - erste CD verkauft
Die ersten Töne, unter einem gläsernen Vordach von Karstadt. "Ich bleib für immer hier / noch niemals sah ich so viel Schönes / komm, wir tanzen hier", singen sie. Zwei Eis essende Pärchen bleiben stehen, dann ein paar Mütter mit Kindern. Nach zehn Minuten ist die erste CD verkauft, an einen Dreijährigen.
Es lief schon besser. Ihr Rekord liegt bei 25 CDs in einer Stunde, das war letzten Sommer in Berlin, bei einem Preis von zehn Euro pro Stück waren das bombastische Einnahmen. Insgesamt sind sie in der letzten Saison 700 CDs losgeworden, "ungefähr 500 verkauft und 200 verschenkt", schätzt Elias. Denn CDs sind ihre Währung für alles, für Mitfahrgelegenheiten, Essenseinladungen, Übernachtungsangebote. In diesem Sommer sollen mindestens 1000 Stück unter die Leute gebracht werden.
17.40 Uhr - Musik macht hungrig
Heute macht die Musik nicht reich, aber trotzdem hungrig. Bei Rewe hat Elias 500 Gramm Graubrot gekauft und drei vegetarische Bioaufstriche, für 8,76 Euro. Wenn sie es sich leisten können, entscheiden sie sich immer für Öko. "Wir hätten auch gerne eine Photovoltaikanlage statt des Generators, aber so was gibt es noch nicht." Die Stullen werden am U-Bahn-Ausgang Landungsbrücken geschmiert, die Tonnen dienen als Stehtische, dazu gibt es Sprudelwasser aus der Flasche.
Es gab schon deutlich magerere Zeiten. Von zwei Euro am Tag haben sie vorletzten Sommer gelebt, da hat Luis für sich und seinen besten Freund nichts als Nudeln und Kartoffeln gekocht. Einziger Luxus: "Instantsoße für 20 Cent." Dahinter steckte weniger die Not als ein strenger Plan: Jeder gesparte Cent wurde damals in Instrumente und Equipment investiert. Alles für den großen Traum von der Straßenmusik, dem sie seither alles unterordnen.
Trotzdem blieben ihre Fixkosten hoch, zu hoch. 600 Euro Miete für zwei Zimmer in der teuren Bankenstadt Frankfurt, "das haben wir jetzt abgestoßen", erklärt Elias. Seit Mai 2010 ist "Guaia Guaia" ohne festen Wohnsitz. Keine Verzweiflungstat, sondern ein künstlerischer Befreiungsschlag. Die beiden Musiker finden es erstens konsequent - und zweitens bequem. "Es ist einfach, seinen Rucksack zu nehmen, irgendwohin zu gehen und dann da zu sein", sagt der eine. Und der andere ergänzt: "Wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren. Das ist sehr entspannend."
Vor fehlenden Schlafmöglichkeiten hatten die beiden letzten Sommer keine Angst und haben es auch in diesem Jahr nicht. Freunde mit Matratzen gibt es in fast jeder Stadt - und notfalls schlafen sie auf Parkplätzen und zünden gegen die Kälte "eine Tanne an". Solche Sachen haben sie auch schon gemacht, "hinterher waren das oft die besten Nächte". Von Jugendherbergen halten die beiden jedenfalls fast so wenig wie von Reihenhäuschen.
18.45 Uhr - das Wetter ist weisungsbefugt im Leben des Straßenmusikers
Nächstes Ziel war eigentlich der stillgelegte alte Elbtunnel, aber es ist Montag, da fahren Autos durch. Ein paar Touristen spazieren trotzdem herum, schon deshalb verdient der Ort ein Ständchen. Skeptisch lässt der uniformierte Fahrstuhlwärter die beiden gewähren.
Generell geraten Elias und Luis selten mit Ordnungshütern in Konflikt, obwohl ihre Auftritte nie angemeldet und damit immer illegal sind. "Nur in München haben wir mal Innenstadtverbot gekriegt", da schickte die Polizei die beiden stattdessen vor einen Bürokomplex an eine vierspurige Straße. Gespielt haben sie dort trotzdem, "einfach so". Weil die Lust an der Musik nicht zwingend mit Zuschauern zusammenhängt.
Und so singen sie auch heute, trotz röhrender Autos, in melodiösen Rhythmen von ihrem Sehnsuchtsort, ihrem Guaia Guaia: "Es war einmal 'ne Insel / die ist auf keiner Karte drauf / und alle ihre Bewohner / haben 'ne Krone auf." Dem Elbtunnel-Beamten wird das dann doch entschieden zu bunt.
Aber bevor sie ihr Keyboard, die Gitarre, die Posaune und das Mischpult wieder einpacken müssen, wird noch eine junge Frau auf einem Fahrrad durch den Tunnel gefahren kommen. Sie wird spontan anhalten, begeistert irgendwas von "Greenpeace", "AKWs" und "geilen Fotos" erzählen. Luis und Elias werden freundlich nicken, klar, kommen wir mit. Auch so funktioniert Konzert-Booking in der Hamburger Unterwelt.
20.36 Uhr - Reeperbahn, morgen vielleicht
Draußen regnet es nicht mehr, aber die Straßen sind nass und kühl. Der Ausflug zur Reeperbahn wird deshalb auf morgen verschoben. "Heute würde sowieso keiner stehen bleiben." Das Wetter ist weisungsbefugt im Leben eines Straßenmusikers. Wenn es in Hamburg bis Mittwoch nicht besser wird, werden die beiden weiterziehen, immer der Nase nach. Eine Tournee, die von Wolkenlücken bestimmt wird.
Für heute aber ist Schluss. Und das heißt: wieder zu Fuß zurück zu den Landungsbrücken, wieder Treppen rauf, Treppen runter. Die Tonnen hängen mittlerweile ziemlich schwer an den Armen. "Das ist unser Workout", sagt Luis. Und Elias fügt hinzu: "Wir sind jung, wir können es uns ein bisschen ungemütlich machen."
Dann lachen sie wieder, warum auch nicht, es war ja ein guter Tag. Und morgen kommt schon der nächste.
Von Astrid Herbold, "Das Magazin"