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Turbo-Abi: Gestresste G8-Abiturienten - nur ein Phantomthema des Bürgertums?

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Studie zum Turbo-Abi G8-Stress gibt es gar nicht

Zu wenig Zeit, zu viel Druck, keine Kindheit mehr - darüber klagen die Kritiker des Turbo-Abis. Eine unveröffentlichte Studie zeigt jedoch: Zwischen G8- und G9-Schülern gibt es kaum Unterschiede. Jugendliche mit verkürzter Schulzeit haben sogar mehr Hobbys.

Es geht um nichts weniger als die Lebenszufriedenheit, den Erfolg und die Berufschancen von Deutschlands Kindern. So sehen es die meisten. Kein Wunder, dass kaum jemand ruhig bleibt, wenn es um die Frage nach der optimalen Schuldauer geht. Acht Jahre Gymnasium - oder doch besser neun? So wie sich beim Fußball 80 Millionen Bundestrainer in die optimale Aufstellung der Nationalmannschaft einmischen, wissen beim Turbo-Abitur 80 Millionen deutsche Bildungsexperten, was richtig ist und was falsch.

Der Stoff taugte schon für - gescheiterte - Volksbegehren in Bayern und Niedersachsen, heftige Debatten um den Schulstress für Kinder und für bildungspolitische Auseinandersetzungen mit populistischem Einschlag.

Der neue, bisher unveröffentlichte Bildungsmonitor 2014 des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) geht jetzt der Frage nach, welche messbaren Unterschiede es bei den Leistungen, aber auch in der Selbstwahrnehmung von G8- und G9-Schülern gibt. Das Resultat der Untersuchung ist überraschend: Schüler, die ihr Abitur nach acht Jahren Gymnasialzeit ablegen, sind in der Schule genauso erfolgreich wie G9-Gymnasiasten. Die Befürchtung, ihre Noten litten unter einer verkürzten Schulzeit, lässt sich bislang nicht nachweisen.

"Die Aufregung ist empirisch nicht belegbar"

"Wir haben alles zu Leistungsvergleichen zwischen G8- und G9-Schülern zusammengetragen", sagt IW-Bildungsforscher Axel Plünnecke, der die Metastudie koordinierte. "Die Ergebnisse sind spektakulär unspektakulär. Die Aufregung um G8 ist empirisch nicht belegbar." Es könnten weder eindeutig positive noch eindeutig negative Effekte festgestellt werden.

Interview: "Stress ist da, aber nicht wegen G8"
Foto: Universität Duisburg-Essen

Sie weiß mehr über das Turbo-Abi als die meisten: Bildungsforscherin Svenja Kühn hat Kritikpunkte am verkürzten Gymnasium untersucht, wissenschaftlich bestätigen konnte sie die nicht. G9 ist demnach so anstrengend wie G8, erklärt sie im Interview. mehr... 

Die Studie, die SPIEGEL ONLINE vorliegt, wird am Dienstag offiziell vorgestellt. Ausgewertet wurden für den Bildungsmonitor 2014 insgesamt 22 bereits vorliegende Studien. 16 davon zeigten keinerlei Unterschiede zwischen G8- und G9-Gymnasiasten, zwei wiesen leichte Verschlechterungen der G8-Absolventen nach, drei stellten leichte Verbesserungen fest.

Lediglich eine einzige Studie kam zu einem klaren Ergebnis: 2009 hatte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie  festgestellt, dass ein herausforderndes Curriculum bei begabten Schülern zu besseren Ergebnissen führt. Ausgerechnet diese Studie mit ihrem vermeintlich positiven Ergebnis der Schulzeitverkürzung bezog sich allerdings explizit nicht auf die Situation in Deutschland - warum sie trotzdem im Bildungsmonitor 2014 auftaucht, bleibt unklar. Die IW-Forscher räumen jedoch ein: "Eine umfassende wissenschaftliche Evaluation der Wirksamkeit der G8-Reform auf die Bildungsergebnisse fehlt bislang."

G8-Schüler haben mehr Hobbies - und sind zufrieden

Gesondert werteten die IW-Forscher die Freizeitaktivitäten und die Lebenszufriedenheit der Schüler aus - die "verlorene Kindheit" der G8-Schüler ist einer der am heftigsten diskutierten Kritikpunkte beim Turbo-Abi. So hatten etwa Sportvereine und Musikschulen befürchtet, dass ihnen die jugendlichen Mitglieder abhandenkommen, weil der verdichtete Stundenplan bei G8 keinen Raum mehr für Freizeitaktivitäten lässt. Und Eltern sorgen sich um die gestresste Psyche ihrer Kleinen. Die Ergebnisse:

  • Gymnasiasten betreiben generell mehr "bildungsorientierte Freizeitaktivitäten" wie Sport, Musik, Tanz/Theater und Ehrenamt als Schüler anderer Schulformen. Die G8-Schüler tun dies sogar noch etwas häufiger als andere Gymnasiasten.

  • Die Forscher stellen aber auch fest, dass G8-Schüler weniger Zeit zur freien Verfügung haben als G9-Schüler.

  • Die Schüler mit vollen Wochenplänen sind dabei jedoch keineswegs unzufrieden: Ein "bemerkenswerter Befund" sei, dass Jugendliche mit bildungsorientierten Hobbys eine "signifikant höhere Lebenszufriedenheit" aufweisen, schreiben die Forscher.

  • Bei der Selbsteinschätzung zeigten sich deutsche Jugendliche insgesamt zufrieden - und zwar Gymnasiasten in G8-Klassen genauso wie Gymnasiasten insgesamt. Das Resultat der Forscher: "Die Befürchtungen, dass Jugendliche im Zusammenhang mit G8 zunehmend über keine Freizeitaktivitäten verfügen und unglücklich und gestresst seien, kann aufgrund der bislang verfügbaren empirischen Evidenz daher nicht belegt werden."

Die Proteste zahlreicher Eltern hält Plünnecke deshalb für überzogen: "Die Debatte dreht sich um die Kinder des Bürgertums, das sich öffentlich am leichtesten Gehör verschaffen kann." Dabei gebe es im Bildungsbereich viel dringendere Probleme, auf die man sich konzentrieren sollte, zum Beispiel die Bildungsarmut oder die Integration junger Menschen ohne Ausbildung.

Beauftragt hatte den Bildungsmonitor 2014 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft  (INSM) - ein von Arbeitgebern gegründeter Lobbyverband, dem Kritiker Neoliberalismus und zu große Wirtschaftsnähe vorwerfen. Wenig überraschend kommt die INSM deshalb auch zu dem Schluss, die Schulzeitverkürzung sei der richtige Schritt gewesen, um Absolventen früher auf den Arbeitsmarkt zu bringen. Von der Rückkehr zur neunjährigen Gymnasialzeit jedenfalls sei dringend abzuraten.

Die Einführung von G8 ist eine der umstrittensten Bildungsreformen der vergangenen Jahre. Rein rechnerisch entspricht die verkürzte Schulzeit bis zum Abitur laut IW-Studie einer durchschnittlichen Erhöhung der wöchentlichen Schulstunden von 29 auf 33. Aufgrund der anhaltenden Kritik von Eltern, Lehrern und Schülern ringen Politiker in vielen Bundesländern derzeit um die Reform der Reform.

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