Testeritis an Schulen Abschlussklausur stand schon im Internet

Bei der Englischklausur waren die Realschüler baff und froh, manche Aufgaben kannten sie schon - in Hessen waren Teile einer Zentralprüfung Monate zuvor im Netz zu lesen. Solche peinlichen Schnitzer häufen sich gerade, denn an Deutschlands Schulen grassiert die Testwut.

Ein bisschen Angst und Schrecken hatte der Lehrer schon erwartet, als er in seiner zehnten Klasse die Englischklausur austeilte – schließlich ging es für die hessischen Realschüler um den Schulabschluss. Stattdessen: Jubel und Gelächter schon beim Anblick der ersten Aufgabe. "Soll das ein Scherz sein?" wollte ein Schüler wissen.

Grund für die Heiterkeit: Die Zehntklässler hatten dieselbe Aufgabe – leicht abgewandelt – schon Wochen vorher traniert. Als so genanntes "Mock Exam" (Probeexamen) hatte das hessische Institut für Qualitätsentwicklung im Auftrag des Kultusministeriums eine Aufgabensammlung ins Internet gestellt. Große Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Test hatte nicht nur die erste Multiple-choice-Aufgabe, bei der die Schüler Fragen zu einer Lautsprecherdurchsage beantworten sollten. Auch der Übersetzungstest und ein Lückentext zur Grammatik waren nur minimal verändert worden ( SPIEGEL ONLINE dokumentiert Auszüge.

"Bei den diesjährigen zentralen Abschlussprüfungen für die hessischen Realschülerinnern und -schüler ist es im Fach Englisch zu einer geringfügigen Überschneidung zwischen den vorab veröffentlichten Übungsaufgaben und den Prüfungsaufgaben gekommen", räumte das Wiesbadener Ministerium auf Nachfrage ein, "wir werden sicherstellen, dass sich dieser Vorgang nicht wiederholen wird."

Das große Messen und Wiegen

Besser wär"s. Denn die zentralen Abschlussprüfungen für Haupt- und Realschüler sowie das neu eingeführte Zentralabitur sind wesentliche Elemente der neuen Qualitätsoffensive an hessischen Schulen. Vor allem "Vergleichbarkeit und Verlässlichkeit", so Hessens leistungsbewusste Kultusministerin Karin Wolff (CDU), sollen die Abschlusstests fördern.

Das hoffen auch Wolffs Ministerkollegen für ihre Länder. Mit nie gekannter Hingabe wird neuerdings an deutschen Schulen verglichen, getestet und inspiziert - aber es fehlt an Ideen, was die Schulen mit der Informationsflut anfangen sollen, berichtet der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe. Außer Rheinland-Pfalz haben alle Bundesländer das Zentralabitur beschlossen, auch Real- und Hauptschüler müssen sich vielerorts landesweit einheitlichen Tests stellen. In Grund- und Mittelstufe sollen Vergleichsarbeiten sicherstellen, dass keine Schule unter der Messlatte herumdümpelt.

Tatsächlich mögen Vergleiche und Zentrale Examen für mehr Gerechtigkeit sorgen, doch das Niveau heben sie nur, wenn sie auch gut gemacht sind. Aus Hessens Gymnasien etwa war nach der Premiere des Zentralabiturs in diesem Frühsommer zu vernehmen, die Aufgaben seien "eher leicht" gewesen.

Und auch bei der vorab in Teilen veröffentlichten Realschulprüfung rieben sich die Pädagogen verblüfft die Augen. "Zwei Drittel des Tests konnte man bestehen, ohne ein Wort Englisch zu schreiben", sagt ein Lehrer. In seiner Klasse liegt der Notendurchschnitt in der Fremdsprache normalerweise bei einer glatten Drei – die schülerfreundliche Prüfung hob den Schnitt mal eben auf 1,8. "Da liegt der Verdacht nahe, dass das Ministerium pünktlich zum Landtagswahlkampf gute Resultate präsentieren will", sagt der Pädagoge.

Pleiten, Pech und Pannen in Serie

Immerhin hätten ja alle Schüler Zugang zu den Mock Exams gehabt, tröstet sich Dirk Fredl vom hessischen Kultusministerium: "Dadurch hat sich keine Wettbewerbsverzerrung ergeben." Einen offiziellen Hinweis auf das Übungsmaterial gab es allerdings auch nicht: "Ich habe nur durch Zufall von einem Kollegen von der Seite erfahren", sagt ein Englischlehrer. Das Nachsehen hatten jene Schüler, die weniger gut vernetzte Lehrer haben.

Nicht nur in Hessen wird die neue deutsche Testeritis von eine Serie von Pleiten, Pech und Pannen flankiert:

  • So brachen Hamburgs Drittklässler bei einer landesweiten Vergleichsarbeit vor kurzem reihenweise in Tränen aus: Der Deutsch-Test war viel zu schwierig und setzte teils Wissen voraus, das nicht vor Klasse Fünf auf dem Lehrplan steht. Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig schrieb einen Entschuldigungsbrief an die empörten Eltern. Ob sie eine eilig entwickelte Alternativ-Arbeit schreiben ließen, konnten sich die Schulen dann aussuchen.
  • Ebenfalls in der Hansestadt musste eine Vergleichsarbeit für die zehnten Klassen wiederholt werden, weil einigen Schülern die Aufgaben des Deutschtests vorab bekannt waren.
  • Ein falsch zitiertes Barockgedicht sorgte in Nordrhein-Westfalen für Aufregung um das Zentralabitur - darin kam "ein gemeinsam Band" vor ; richtig hätte es "ein gemeines Band" heißen müssen. Erst nach zähem Ringen räumte das Ministerium ein, eine sinnentstellende Fassung an die Gymnasiasten verteilt zu haben.

Für Hessens Realschüler stand nach den Abschlussprüfungen vor kurzem noch eine reguläre Englischarbeit auf dem Programm, die die Fachlehrer selbst stellen durften. Einhellige Resonanz: "Das war richtig schwer."

Mehr lesen über

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren