Turbo-Abitur Gymnasiasten ächzen unter der Stundenlast
Weniger Stunden, Lehrpläne entrümpeln - Niedersachsens frisch wiedergewählter Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) will das Gymnasium reformieren. Er kritisierte heute die Kultusministerkonferenz, die schon zu lange über eine Verkürzung der vorgeschriebenen 265 Jahreswochenstunden bis zum Abitur debattiere. Bisher haben die Länderminister keine gemeinsame Lösung gefunden.
Das Problem: In vielen Bundesländern sollen die Gymnasiasten nun Abitur nach zwölf Jahren machen, die starre Mindeststundenzahl wurde aber beibehalten. Die Schüler müssen also das Pensum eines ganzen Jahres einfach nebenher lernen. Entsprechend verdichtet ist der Stoff.
So ist es im Moment auch in Niedersachsen. "Jetzt müssen die Lehrpläne entrümpelt werden. Die Zahl der Unterrichtsstunden muss ein wenig verringert werden", sagte Wulff am Dienstag.
Die Schüler klagen über 50-Stunden-Wochen
Bisher haben sich die Kultusminister nicht darauf einigen können, die Lehrpläne zu verändern. Viele Gymnasien wurden so faktisch zu Ganztagsschulen, ohne dem Lern-Tag für ihre Schüler einen anderen Rhythmus zu geben oder das Angebot der Schulen für Mahlzeiten oder Pausen und Freistunden zu verbessern. Die Schüler klagen über Wochen mit 35 bis 40 Unterrichtsstunden - plus Hausaufgaben plus Lernen für Klassenarbeiten und Klausuren. Das kann sich auf eine Arbeitszeit von über 50 Stunden summieren.
Wulff warnte indes vor einer "hysterischen" Debatte - Eltern und Lehrer sähen "die Situation oft dramatischer" als die Schüler selber. Bis zum Sommer werde es Ergebnisse geben, damit im nächsten Schuljahr neue Regelungen schon greifen können.
Die Entscheidung für eine kürzere Schulzeit bis zum Abitur hält Wulff weiterhin für richtig: "Wir stehen unter einem internationalen Wettbewerbsdruck, weil unsere Akademiker zu alt sind." Aus diesem Grund wurde das Zwölfer-Abi überhaupt einmal eingeführt, ein weiterer waren die schlechten Pisa-Ergebnisse der letzten Jahre. Mit der Verkürzung der Schulzeit waren die Bildungspolitiker schnell bei der Hand - der bröckelnde Ruf des deutschen Bildungssystems sollte im Eiltempo aufpoliert werden.
Zurück zum neunjährigen Gymnasium?
Nun verbringen viele Schüler regelmäßig 40-Stunden-Wochen in Schulen, die dafür nicht ausgestattet sind. Die Husch-husch-Reform der Kultusminister hat in weiten Teilen der Republik genervte bis wütende Schüler, Eltern und Lehrer hinterlassen. In Nordrhein-Westfalen will Bildungministerin Barbara Sommer (CDU) die Schüler nun sogar samstags wieder zur Schule bitten, weil die normale Schulzeit für den Stoff nicht mehr ausreicht.
"Jetzt rächen sich die Sünden der Vergangenheit", sagte Gitta Franke-Zöllmer vom Verband Bildung und Erziehung Niedersachsen. Die von den Ländern beschlossene Verkürzung der Gymnasialzeit sei "undurchdacht und konzeptionslos" gewesen. "Wir müssen die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in Erwägung ziehen."
Matthias Kern vom Landeselternrat sagte: "Es gibt viele Schüler, die das wegstecken können, aber es gibt auch andere." Ihm mache Sorgen, "dass die Kinder kein Fußballtraining oder private Musikstunden mehr machen können, weil sie nach Schule und Hausaufgaben einfach k.o. sind".
"Es wird ein Gezerre unter den Fächern geben"
Wie die von Wulff geforderte "Entrümpelung" aussehen könne, sei fraglich, so Kern: "Ich fürchte, es wird ein Gezerre unter den einzelnen Fächern geben." Ganz oben auf der Streichliste stünden Fächer wie Religion, Musik und Kunst. Auch Guillermo Spreckels, Landesvorsitzender des Philologenverbandes, sprach von einer "unerträglichen Belastung" vor allem für Acht- und Neuntklässler und forderte, die Schule müsse "wieder menschlicher werden".
In Hessen teilte Kultusministerin Karin Wolff (CDU) mit, zum Start des zweiten Schulhalbjahres seien für Gymnasiasten Erleichterungen in Kraft getreten. So sei in den Klassen fünf bis sieben der Nachmittagsunterricht eingeschränkt worden. Derzeit werde an neuen, gestrafften Lehrplänen für das nächste Schuljahr nach der Sommerpause gearbeitet. Ob Wolff dafür noch zuständig sein wird, ist offen. Das Thema Bildungspolitik hatte vor der Landtagswahl, bei der die CDU eine schwere Schlappe erlitt, für viele Eltern eine bedeutende Rolle gespielt.
Schleswig-Holstein zählt zu den wenigen Bundesländern, die das Turbo-Abitur noch nicht umgesetzt haben. Die verkürzte Schulzeit soll aber zum neuen Schuljahr eingeführt werden. Dagegen protestiert die Landesschülervertretung. "Die Reform kommt zu früh und ist nicht aufgereift", sagte Schülersprecherin Catalina Gottwald den "Lübecker Nachrichten". Schüler und Lehrer würden zu stark unter Druck gesetzt. Das Abitur in zwölf Jahren sei nur möglich, "wenn den Lehrern mehr Freiheiten eingeräumt werden. Das sehen wir derzeit im Schulgesetz nicht verankert", so Gottwald.
maf/jol, dpa, AP