Unter Pisa-Schock Lehren für Lehrer

Nach dem Pisa-Fiasko müssen Deutschlands Lehrer umlernen. Beim SPIEGEL-Forum an der Universität Tübingen debattierten Lehrer, Wissenschaftler, Politiker und Studenten über das Thema "Neue Lehrer braucht das Land ­ Konsequenzen aus der Pisa-Studie".

UniSPIEGEL:

Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler bei der internationalen Pisa-Vergleichsstudie hat eine Diskussion um die Verantwortung der Schulen und um die Versäumnisse der Lehrerausbildung angestoßen. Das Studium, heißt es etwa, sei viel zu akademisch und nicht auf den Alltag in der Schule ausgerichtet. Frau Schavan, wie wollen Sie die Lehrer dazu bringen, ähnlich schlechte Ergebnisse in Zukunft zu verhindern?

Schavan: Wir sollten uns davor hüten, allein den Lehrern die Schuld an den Pisa-Ergebnissen zu geben. Es wird immer behauptet, unsere Lehrer seien hoch bezahlt und schlecht motiviert. Ich glaube, dieses gesellschaftliche Klima ist Teil der Misere. Wenn wir wollen, dass die Kinder und Jugendlichen Bildung für etwas Wichtiges halten, dann müssen wir auch ein positives Klima für die Arbeit der Pädagogen schaffen. Die Zahl derer, die sich für ein Lehramtsstudium entscheiden, ist in letzter Zeit wieder gestiegen. Das zeigt doch, dass die junge Generation Lust zu dem Beruf hat.

UniSPIEGEL: Frau Kuhfuß, haben Sie in Ihrem Studium das gelernt, was Sie jetzt als Lehrerin brauchen?

Kuhfuß: Ich habe mit Begeisterung studiert, aber eine direkte Verbindung zum Beruf gibt es nicht. Mit meinen Unterlagen aus der Uni kann ich keine Stunden vorbereiten. Dazu brauche ich eine fachdidaktische Kompetenz, die eigentlich an der Hochschule vermittelt werden sollte. Deshalb muss die Praxis auch schon im Studium verankert sein.

Lede Abal: Das Problem ist, dass uns an der Uni zwar Wissen vermittelt wird, dass wir aber nicht lernen, wie wir dieses Wissen später weitergeben können. Die neuen Praxissemester sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber für mich kommt die Neuerung zu spät, weil ich schon zu weit bin in meinem Studium.

Herrmann: Man kann der Universität nicht zum Vorwurf machen, dass sie Wissenschaft und Theorie pflegt, denn genau dafür wurde sie erfunden. Eine Universität ist keine Berufsbildungsanstalt. Dennoch will eine große Zahl von Studierenden an der Uni auf eine spätere Berufstätigkeit vorbereitet werden. Und das geschieht am besten dadurch, dass die Theorie möglichst gut vermittelt wird ­ denn die Berufspraxis lernt man anderswo.

Ehrich: Die gesamte Bildungsdebatte wird von der Annahme beherrscht, dass unsere Absolventen zu viel Fachwissen haben und dass eigentlich zu viele Schüler aufs Gymnasium gehen. Da schwingt die Forderung mit, die Lehrerausbildung an die Fachhochschulen zu verlagern. Ich halte das für falsch. Bei meinen eigenen Söhnen stelle ich fest, dass sie dann motiviert und leistungsbereit sind, wenn die Lehrer ihre Sache wirklich beherrschen und sich für ihr Fach begeistern.

UniSPIEGEL: Der rheinland-pfälzische Bildungsminister Jürgen Zöllner hat vorgeschlagen, die Lehrerausbildung in ein Bachelor-Master-System umzuwandeln. In die sechs Semester bis zum Bachelor wäre dann schon eine intensive pädagogische Ausbildung integriert, danach erst soll die Festlegung auf einen Schultyp folgen.

Schavan: Der sechssemestrige Bachelor ist nur auf ein Unterrichtsfach angelegt. Wir brauchen aber keine Lehrer mit nur einem Fach, sondern mindestens mit zwei, vielleicht mit drei. Wenn in der Bachelor-Phase zwei Fächer vermittelt werden, die Studenten in die Schule gehen und außerdem noch Psychologie und Pädagogik belegen sollen, dann ist das kaum zu bewältigen. Die Modelle zur Ausbildungsreform sollten nicht nur die Experimentierlust der Hochschulen oder der Ministerien befriedigen. In Baden-Württemberg haben wir ein Praxissemester eingeführt, damit die Studenten erste Erfahrungen mit dem Beruf machen können.

Ehrich: Durch das Praxissemester verlieren die Studenten aber ein halbes Jahr von ihrem Referendariat, das meiner Meinung nach viel wichtiger ist. Ich finde außerdem, dass ein angehender Lehrer auch mal in einem ganz anderen Bereich arbeiten sollte ­ sonst sieht er sein Leben lang nichts als Schule. Ein halbes Jahr Pflichtpraktikum während des Studiums finde ich sinnvoll, aber es sollte möglich sein, einen Teil auch außerhalb der Schule zu machen.

Schavan: Es gibt das zweijährige Referendariat erst seit Mitte der achtziger Jahre, und mir ist nicht bekannt, dass es an den Schulen gravierende Qualitätsunterschiede gäbe zwischen den Lehrern mit zwei Jahren Referendariat und denen mit eineinhalb. Es ist doch viel sinnvoller, von solchen starren Blöcken wegzukommen und Praxisphasen schon ins Studium einzubauen. Das können meinetwegen auch zweimal sechs Wochen sein. Wenn wir das machen, bringen wir alle zusammen, die an der Ausbildung beteiligt sind, und die Schule entdeckt ihre Rolle als Partner bei der Ausbildung. Umgekehrt können die Erfahrungen aus der Schule an der Hochschule reflektiert werden.

Herrmann: Die Frage ist doch nicht, ob das Referendariat eineinhalb oder zwei Jahre dauert, die Frage ist, was da eigentlich geschieht. Studienseminare und Universitäten müssen zusammenarbeiten. Das ist in kleineren Ausbildungsbezirken wie Ulm und Weingarten auch möglich, aber für Tübingen, Heidelberg und Freiburg ist es aussichtslos, die Massen zu bewältigen.

UniSPIEGEL: Herr Lede Abal, Sie haben das Referendariat noch vor sich. Was sind denn die vordringlichen Probleme im Studium?

Lede Abal: Mich stört vor allem, dass die administrativen Abläufe nicht richtig funktionieren. Wenn ich etwa aus der Zeitung von einer neuen Regelung für die Praxissemester erfahre und meine Professoren frage, was sich geändert hat, dann wissen die das auch nicht, weil sie noch keine Informationen aus dem Kultusministerium bekommen haben. Ein anderes Beispiel: Ich weiß nicht, ob hier im Saal schon einmal jemand versucht hat, auf den Internet-Seiten des Tübinger Oberschulamts eine Prüfungsordnung zu finden. Das ist schlicht nicht möglich.

Ist das Leistungsniveau wirklich gesunken? Und wo bleiben die Schüler bei der Debatte?

Lesen Sie im zweiten Teil:

UniSPIEGEL: Frau Kuhfuß, ist die Euphorie über das Praxissemester schon an den Schulen angekommen?

Kuhfuß: Ich finde das Praxissemester wichtig, schon um sich darüber klar zu werden, ob man eigentlich an die Schule möchte oder nicht. Das Referendariat zu verkürzen halte ich aber für problematisch ­ in der ersten Phase hospitiert man vor allem bei den Kollegen und beginnt dann, unter der Aufsicht eines Kollegen selbst zu unterrichten, bevor man dann im zweiten Jahr selbständig an einer ganz anderen Schule unterrichtet. Das Praxissemester hat seine Qualitäten, aber es fängt das, was man im Referendariat lernt, nicht auf.

Schavan: Der Kollege Zöllner will das Referendariat sogar auf ein Jahr verkürzen.

Kuhfuß: Das macht es nicht besser.

Schavan: Ich finde es wichtig, dass der spätere Arbeitsplatz Schule schon innerhalb des Studiums eine Rolle spielt. Das bedeutet natürlich nicht nur für die Unis Veränderungen, sondern auch für die Schulen. Mir ist bei der Einführung des Praxissemesters als Erstes gesagt worden: "Was sollen denn die Gymnasien mit Praktikanten anfangen, die laufen da doch nur rum." Und das in Zeiten, wo sich alle einig sind, dass mehr junge Menschen an die Schulen gehören. Es ist doch eine Riesenchance, wenn junge Leute an die Schule kommen. Für die gibt es eine Menge Aufgaben ­ Arbeitsgemeinschaften, Hausaufgabenbetreuung, einfach die Beschäftigung mit Schülern. Dafür braucht man noch keine Fachdidaktik.

UniSPIEGEL: Frau Schavan hat nach der Veröffentlichung der Pisa-Ergebnisse gesagt, es gäbe offenbar Leistungsdefizite an den Schulen. Ist das Leistungsniveau gesunken?

Kuhfuß: Ich bin noch nicht alt genug, um sagen zu können, dass früher alles besser war. Es gibt an meiner Schule sehr gute Schüler, und es gibt Schüler, die Probleme haben. Die Herausforderung ist, beiden Gruppen gerecht zu werden.

Herrmann: Pisa macht keine Aussage über den objektiven Leistungsstand der Schüler in den beteiligten Ländern, sondern über eine lehrplanunabhängige Pisa-Norm. Und Deutschland liegt ziemlich genau in der OECD-Norm, da gibt es überhaupt keinen Grund zur Aufregung. Pisa-Sieger sind diejenigen Systeme, die Klassen mit heterogenem Leistungsstand bis ans Ende der Pflichtschulzeit führen. Wo wie bei uns früh in die unterschiedlichen Schulformen differenziert wird, fehlt es einfach an der Leistungsspitze. Pisa weist darauf hin, dass in der Schule träges Wissen vermittelt wird. Die Schüler können ihr Wissen nicht anwenden, um eigenständig Probleme zu lösen. Daher ist es wichtig, fachvernetzenden Unterricht zu entwickeln. Der Unterricht muss Phasen der Projektentwicklung, der Projektdurchführung und der Übung bieten. Das geht aber weder im 45-Minuten- noch im Halbtagsbetrieb.

Ehrich: Wir müssen auch das Umfeld berücksichtigen. Was Pisa vor allem zeigt, ist, dass wir nicht nur neue Lehrer brauchen, sondern auch ein anderes Schulwesen, in dem nicht die soziale Herkunft über die Schulform entscheidet. Bei uns gehen die Einwandererkinder in der Regel auf die Hauptschule. Das ist ein großer Unterschied zu anderen europäischen Ländern, die ebenfalls viel Einwanderung haben. Das dreigliedrige Schulsystem ist aus meiner Sicht verfehlt.

Schavan: Alle Wissenschaftler, die mit der Pisa-Studie zu tun haben, warnen, mit Strukturdebatten zu beginnen. Ein neues Schulwesen ändert erst mal gar nichts. Das kann nicht unsere Antwort auf Pisa sein.

Studentin (aus dem Publikum): Wäre es nicht auch sinnvoll, dass künftige Lehrer einen Teil ihres Studiums oder des Referendariats im Ausland absolvieren? Ich denke, dass wir von den Ländern etwas lernen können, die bei Pisa besser abgeschnitten haben als wir.

Schavan: Ein Auslandsstudium ist schon jetzt überhaupt kein Problem. Bei einem Referendariat im Ausland muss man überlegen, wo es ähnliche Ausbildungsstrukturen gibt. Eine Reihe von Ländern investiert sehr viel weniger in ihre Lehrerausbildung als wir. Aber wo Austauschmöglichkeiten in der zweiten Phase des Lehramtsstudiums möglich sind, sollte man sie nutzen und weiterentwickeln.

Schülerin (aus dem Publikum): Ich mache in diesem Jahr Abitur und frage mich: Wo bleiben eigentlich die Schüler bei dieser Debatte? Es geht nicht nur um die Ausbildung der Lehrer, sondern es geht um die Art des Unterrichts. Wir müssen beispielsweise für Klausuren und Klassenarbeiten den Stoff von einem halben Jahr lernen ­ und können ihn danach gleich wieder vergessen.

Kuhfuß: Eine Folgerung aus Pisa ist ja, dass wir den Unterricht selbst über einen längeren Zeitraum beobachten müssen, also nicht nur als Querschnitt, sondern als Längsschnittuntersuchung. Eine zentrale Frage muss dabei sein, welche Unterrichtsmethoden die Schülerinnen und Schüler als vernünftig und effektiv empfinden.

Schavan: Unsere Aufgabe ist es, die Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen. Nicht erst seit den Pisa-Ergebnissen ist klar, dass wir uns jetzt daranmachen müssen, etwas zu verändern.


Das Forum wurde moderiert von SPIEGEL-Redakteur Martin Doerry.


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