Untote Sprache Jeder dritte Gymnasiast bimst Latein

Tempora mutantur, sagt der Lateiner - die Zeiten ändern sich. Latein ist an deutschen Schulen einfach nicht totzukriegen und feiert sogar eine erstaunliche Renaissance: Die Zahl der Schüler, die Caesar und Cicero pauken, ist in den letzten Jahren um ein Drittel gestiegen.

Wer im Urlaub nach dem Weg fragen, sich eine Zahnbürste oder Fahrkarte kaufen will, kommt mit Latein nicht recht voran - es sei denn, man befindet sich gerade in der Vatikanstadt und parliert mit einem katholischen Priester der alten Schule. Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch oder Russisch: Alle lebendigen Sprachen, die Schüler lernen können, sind für den Alltag weitaus nützlicher. An Deutschlands Schulen ist Latein dennoch quicklebendig.

Totgesagte leben länger: Um satte 31 Prozent ist in den vergangenen sechs Jahren die Zahl der Schüler gestiegen, die sich im Unterricht mit der Feldherren-Prosa "De Bello Gallico" abmühen, lange Vokabellisten bimsen, Wesen und Funktion des Ablativ ergründen. Damit erlebt der Klassiker Latein eine verblüffende Renaissance. Jeder dritte Gymnasiast ist Lateinschüler, sechs Jahre zuvor war es nur jeder vierte, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

Deutlich gestiegen ist im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Teilnehmer in modernen Sprachen: plus 15 Prozent bei Englisch, plus 8 Prozent bei Französisch. Das liegt aber vor allem daran, dass auch die Grundschulen mehr und mehr Fremdsprachen unterrichten. Latein dagegen wird nahezu ausschließlich an Gymnasien gelehrt. Die regionalen Unterschiede sind dabei beträchtlich: Im traditionsfesten Bayern pauken 47 Prozent aller Gymnasiasten die Sprache von Caesar und Cicero, in Nordrhein-Westfalen 39 Prozent, dagegen in Bremen, Sachsen-Anhalt und im Saarland nur um die 15 Prozent.

Furchtbare oder fruchtbare Lektionen?

Der frühe Start in Englisch als Pflichtfach nützt auch dem Latein - in der fünften Klasse sei jetzt einfach mehr Raum für das Erlernen einer neuen Sprache, sagt Stefan Kipf, Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV) in Berlin. Inzwischen ist das Personal knapp: "Wir haben einen gigantischen Lehrermangel", klagt der Professor.

Latein hat offensichtlich eine besondere Beharrungskraft entwickelt. In etlichen Studienfächern kommen Studenten daran noch immer nicht vorbei: Weil jahrzehntelang praktisch alle Versuche, den universitären Lehrplan zugunsten zeitgemäßerer Inhalte zu entrümpeln, an der Mauer der Altphilologen-Lobby zerschellten, droht Studienanfängern ohne Latein vielfach ein böses Erwachen. Sie finden sich in zermürbenden Großveranstaltungen wieder, die im Laufe des ersten und zweiten Semesters deutlich schrumpfen - und bei den Lateinprüfungen ist die Durchfallquote hoch.

Das führt zu Furcht und Fluchtbewegungen: Entnervte Zwangslateiner wechseln nicht selten das Studienfach oder verabschieden sich gleich ganz von der Uni. Oder sie versuchen ihr Glück in Crash-Kursen, bei denen Privatpauker ihnen das gesammelte prüfungsrelevante Lateinwissen binnen weniger Wochen einzutrichtern versuchen.

Römisches Alltagsleben statt Krieg und Mannestum

Wenn Eltern diesen Schrecken vorausahnen, schubsen sie ihre Kinder mitunter früh in den Lateinunterricht. Es gibt aber auch Schüler und Studenten, die zunächst über die Lateinhürden murren - und die Reize der vermeintlich toten Sprache auf den zweiten Blick entdecken. Altphilologen sind ohnedies davon überzeugt, dass nichts schöner, logischer, präziser und für den Erwerb anderer Sprachen fruchtbarer sein kann als ihr geliebtes Latein, das sie so unermüdlich beschwärmen: von wegen unnütz.

"Eine allgemeine Wendung hin zum Bewährten" ortet zum Beispiel der klassische Philologe Winfried Stroh. Die moderne Welt frage wieder stärker nach ihren Wurzeln. So komme gar nicht am Latein vorbei, wer einen Computer (von "computare") besitzt, ihn defragmentiert (aus "de" und "fragmentum") oder auch nur einen Text ("textus") an ihm erstellt, schreibt der Münchner Professor Stroh in seinem Buch "Latein ist tot, es lebe Latein!"

Aus Sicht von Stefan Kipf hat Latein den Ruf als "brutales Auslesefach" inzwischen verloren, auch die Lehrinhalte seien modernisiert worden. "Früher bewegte der Unterricht sich zwischen Grammatik und Krieg - da ging es dann um das römische Mannestum und Ähnliches", inzwischen viel öfter um das Alltagsleben der Römer. Auch die "Latinitas Viva", das gesprochene Latein, spiele eine größere Rolle. "Wenn der Lehrer auf Latein sagt 'Macht das Fenster auf!', dann sind die Schüler gleich ganz anders bei der Sache", so Kipf.

Er sieht weitere Vorteile: Das Nebeneinander von alten und neuen Sprachen sei besonders "bildungswirksam". "Latein kann man betrachten als Modell von Sprache", so Kipf. Im Unterricht lerne ein Schüler nicht nur alle wichtigen grammatischen Begriffe, sondern auch Genauigkeit: "Um jeden Buchstaben wird ja beim Übersetzen gerungen."

Mehrsprachige Schüler: Yo soy un hombre Cicero

Auch der Zugang zu den Traditionen fasziniere die Schüler, sagt Ulrike Dörr, stellvertretende Leiterin des Albertus-Magnus-Gymnasiums in Rottweil. Die Schule bietet seit über 375 Jahren Latein-, Griechisch- und sogar Hebräisch-Unterricht an. Längst geht es dabei nicht mehr nur um Textarbeit, sondern wie bei den modernen Sprachen auch um die Sprachwelt.

Um einen Zugang zu den Bildungstraditionen zu schaffen, stehen "in den Griechisch-Klassen Studienreisen von Athen bis Sparta auf dem Programm". Die Lateinklassen erkunden Rom, Florenz, Sorrent - und das heimische Rottweil als idealen Einstieg: "Wir sind schließlich auch eine alte Römerstadt", so die Studienrätin.

An ihrer Schule, seit 2005 "Europäisches Gymnasium" beginnen Fünftklässler mit Latein, in der achten Klasse kann man Griechisch oder Französisch hinzuwählen, in Klasse 10 Französisch oder Spanisch. Auch Hebräisch und Italienisch sind wählbar; Englisch lernen ohnehin alle. Insgesamt lernen die Schüler also jeweils mindestens drei Sprachen gleichzeitig - ein volles Programm. "Als Rat gilt an unserer Schule: Wähle die Sprache, die dich interessiert", sagt Dörr. "Und gerade die Andersartigkeit macht Latein bei den Schülern so beliebt."

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