Unverständlich, unklar, unlösbar Das Abi-Chaos von Nordrhein-Westfalen
Schock am letzten Donnerstag: Naomi*, 19, trat beim Schulleiter ihrer Gesamtschule in Bergkamen an und erfuhr, dass sie ihre Abiklausur im Mathe-Leistungskurs total verhauen hatte. Vornote 11 Punkte, also eine glatte Zwei, jetzt sind es nur noch zwei Punkte, also eine Fünf. Damit geht sie diesen Freitag in die Nachprüfung.
Immerhin ist sie damit nicht allein: Die anderen Schüler aus ihrem Leistungskurs müssen auch noch einmal antreten. Und zwar allesamt - Heulen und Zähneklappern bei 22 Abiturienten. Naomi nimmt es mit Sarkasmus: "Mit meinen zwei Punkten gehöre ich noch zu den besten", sagt sie, "knapp die Hälfte hat null Punkte erreicht." Ihr eigener Abi-Schnitt sei jedenfalls "versaut", maximal komme sie jetzt noch auf 2,4 "das ist echt mies". Und vor allem: Es ist kein Einzelfall.
Landesweit erfahren die Abiturienten bis Mittwoch ihre Klausurnoten. Wer einen Unterschied von mehr als vier Punkte zu seiner Vornote hat, muss in die Nachprüfung "Abweichungsprüfung" heißt das offiziell. "Besonders in Mathematik gab es in diesem Jahr signifikant mehr Abweichungen als sonst", sagt Margarete Vögele, Schulleiterin in Dortmund.
Per Rundmail haben die Macher der Lehrerbenotungs-Internet-Seite Spickmich.de 20.000 NRW-Abiturienten angeschrieben, die bei ihnen Mitglied sind. So erreichten sie ein Drittel der insgesamt an Rhein und Ruhr betroffenen Schüler. Demnach gibt es landesweit etliche Leistungskurse, aus denen satte 50 Prozent der Schüler oder mehr zur Nachprüfung müssen. Auch Naomi aus Bergkamen hatte sich bei Spickmich gemeldet.
Pleiten, Pannen, Proteste
Seit am 7. April die Abi-Klausur-Phase an Rhein und Ruhr begann, häufen sich die Beschwerden von Schülern und Lehrern. Es gebe "eine Fülle von Ungereimtheiten und Verwerfungen, dazu jede Menge handwerklicher Fehler", sagt etwa Peter Silbernagel, Vorsitzender des NRW-Philologenverbandes.
Lehrerverbände, Schülervertreter und die Medien haben seither etliche Abi-Pannen zusammen getragen. So viele, dass Schulministerin Barbara Sommer (CDU) in einer neunseitigen Stellungnahme für den Landtag reagieren musste. Eine kleines Pannen-Panoptikum:
Das Bonner Helmholtz-Gymnasium suchte nach einer Erklärung für das schlechte Abschneiden vieler Schüler im Fach Mathe und beauftragte den Bonner Professor Peter Koepke, eine der Klausuraufgaben einmal nachzurechnen. In Aufgabe a) geht es in drei Fragen um die Wahrscheinlichkeit, mit der Basketballer Dirk Nowitzki eine Reihe von Freiwürfen im Korb versenkt - oder eben nicht.
Bei den ersten beiden Berechnungen wurden jeweils zehn Versuche zugrunde gelegt. Doch bei der dritten Teilaufgabe fehlt diese Angabe. Die Schüler hätten also selbst eine Zahl einsetzen müssen. Klarer Befund des Wissenschaftlers: "Die Aufgabe ist wesentlich unvollständig" und "falsch gestellt".
In einer Aufgabe zur Erdkunde-Leistungskursklausur war bei einer Frage zum Strukturwandel des Seehafens Wismar ein Komma verrutscht. Aus "19,058" wurde "190,58" Tonnen Reaktion des Ministeriums: "Die Gesamtmenge aller Ostseehäfen war richtig angegeben." Manche Schüler berichten, sie seien erst mehrere Stunden nach Klausurbeginn von einem per E-Mail alarmierten Lehrer über den Fehler unterrichtet worden.
Bei einer Pädagogik-Aufgabe zu Sigmund Freud hatten die Autoren aus "Gefühlen, die uns bewusst sind", ein "unbewusst" gemacht und so den Sinn ins Gegenteil verkehrt. Barbara Sommer: "Rückmeldungen haben ergeben, dass viele Schüler auch schon vor der Korrekturmitteilung das 'un' überlesen haben und den Satz richtig verstanden hatten."
In Biologie hatten Schüler eine halbe Stunde Zeit, sich durch 18 Seiten Material kämpfen, um sich danach für zwei von drei Aufgaben zu entscheiden. "Viel zu viel" an Lesestoff sei das gewesen, sagt Britta, Abiturientin in Löhne. "Für die Auswahl zweier Themen war es nicht nötig, das Material vollständig durchzulesen", entgegnet die Ministerin, "wer sich zügig für zwei Themen entscheiden konnte, hatte daher sogar mehr als die vorgesehene Arbeitszeit zur Verfügung."
Gleich reihenweise verzweifelten die Schüler - und manche Lehrer - in Mathe-Leistungskursen am "Oktaeder des Grauens", wie eine Aufgabe schnell getauft wurde. Er habe nicht "auch nur annähernd einen Lösungsansatz" finden können, sagt etwa Jan aus Arnsberg. Er fühlte sich mit einer Vornote von 14,5 Punkten eigentlich gut vorbereitet.
Dazu das Ministerium: Im Leistungskurs hätten die Lehrer drei von acht Ausgaben auswählen können. "Die Fachlehrkraft konnte also entscheiden, welche Aufgabe dem Prüfling sinnvollerweise eher vorgelegt werden soll" - und dabei hätte ihnen auffallen können, wie kompliziert die Aufgabe ist. Dieses Argument bringt Peter Silbernagel vom Philologenverbandes in Rage: "Mich ärgert, dass da jetzt der Eindruck erweckt wird, die Lehrer seien schuld."
In Geschichte war der Hinweis "des 19. Jahrhunderts" an das Ende einer Teilaufgabe angehängt - nur ergab er dort keinerlei Sinn. Der Hinweis fehlte dafür am Ende einer anderen Aufgabe, die dadurch ebenfalls kaum Sinn ergab. "Zu Beginn der Klausur bekamen wir einen Brief des zuständigen Abteilungsleiters im Ministerium, in dem auf diesen Fehler hingewiesen wurde", sagt Horst Wenzel von der Landesschülervertretung NRW, der selbst diese Geschichtsklausur schreiben musste. Wegen des "ultrabürokratischen Entschuldigungsschreibens" habe der gesamte Kurs erst einmal "losgebrüllt vor Lachen". Danach habe er den Korrekturbrief wieder abgeben müssen.
Viel Bürokratie, wenig Bodenhaftung - Klausurpannen können die Zukunftspläne durchkreuzen
Neben Konstruktionsfehlern sei es zusätzlich ein Problem, dass die Mathe-Aufgaben heute immer "eingekleidet" würden in eine Textaufgabe, sagte Peter Koepke SPIEGEL ONLINE: "Das macht es noch komplizierter, weil damit die lebensweltlichen Vorstellungen der Jugendlichen mit hineinkommen."
Anders gesagt: Ob Dirk Nowitzki überhaupt einmal zehn Freiwürfe hintereinander ausführe, könne für die Jugendlichen durchaus von Bedeutung sein, wenn sie die Aufgabe lesen. Die meisten Jugendlichen wissen, dass dies ein eher unrealistisches Szenario ist. Fehler in der Testkonstruktion seien da fast schon programmiert, so der Bonner Professor.
Es ist der Wurm drin im Zentralabitur - dabei wähnte sich das Düsseldorfer Schulministerium diesmal eigentlich in Sicherheit. Ein Verfahren mit ganzen 16 Stufen sollte sicherstellen, dass sich nicht, wie schon 2007, spektakuläre Fehler in die Abituraufgaben einschleichen.
Über 750 verschiedene Aufgaben für 54 Fächer mussten gefunden und formuliert werden. Von einer ersten "Rohfassung" über mehrfache "Checks" und Kontrollen durch Beamte "aus Schülersicht" bis zur Endfassung führte der Weg der Aufgaben. Ihre Meinung abgeben konnten unter anderem Mitglieder einer Steuergruppe, Fachdezernenten der Bezirksregierungen, Kommissionsmitglieder und Vertreter von Referenzschulen.
74 von 84 Abiturienten zur Nachprüfung
Viel Bürokratie, wenig Bodenhaftung so kamen offenbar die zahlreichen Fehler zustande, auch wenn Ministeriumssprecher Andrej Priboschek im Hinblick auf die umstrittene Basketball-Aufgabe betont: "Die Fachleute in unserem Haus haben das überprüft und keine Fehler gefunden."
Wenn es ein Problem gibt, dann liegt es nicht in einer, sondern in fast allen Schulen auf dem Tisch - zuverlässig sorgt das Zentralabitur für eine bestmögliche Fehlerverbreitung. Ausbaden müssen das die Schüler. Bei ihnen ist die Wut oft groß, denn Klausurpannen können im schlimmsten Fall den Abi-Schnitt so weit drücken, dass der sicher geglaubte Studienplatz in NC-Fächern wie Medizin unerreichbar wird.
Viele Schüler zittern jetzt jedenfalls: "Ich kenne eine Schule im Ruhrgebiet, da müssen von 84 Abiturienten 74 in die Nachprüfung", sagt Peter Silbernagel vom Lehrerverband. Den Namen der Schule will er nicht nennen.
Bei den Spickmich-Machern meldeten sich in den letzten Tagen reihenweise Schüler, die davon berichteten, dass komplette Kurse weit unter ihre Vornoten lagen. "Normalerweise liegen diese Abweichler-Quoten bei uns bei etwa 15 Prozent", sagt etwa Bertin Kotthoff, Schulleiter am Arnsberger St.-Ursula-Gymnasium ein Wert, der laut Spickmich-Recherchen in diesem Jahr fast flächendeckend übertroffen wird.
Mathe-Noten nachträglich anheben?
"Es ist einfach nur erschreckend, was da innerhalb von Stunden an Beschwerden zurückkam", sagt Bernd Dicks von Spickmich, "an etlichen Schulen müssen die Hälfte oder mehr der Abiturienten in die Abweichungsprüfung." Rund tausend Antwort-E-Mails werden derzeit noch ausgewertet, am Donnerstag wollen Spickmich und Landesschülervertretung die Ergebnisse gemeinsam veröffentlichen. Bernd Dicks sagt schon jetzt: "Wir fordern, dass die Noten vor allem in Mathe nachträglich angehoben werden."
Dass es "Bewertungsspielräume" für die Lehrer gibt, hatte auch das Schulministerium in den vergangenen Tagen immer wieder betont. Damit könnten die Lehrer die Situation zumindest entschärfen. Doch bei ihnen ist die Verunsicherung offenbar so groß, dass sie sich lieber an die vorgegebenen Musterlösungen des Zentralabiturs halten.
Für Desiree, Abiturientin aus Rheinberg, heißt das: abgerutscht von zwölf auf sechs Punkte. Statt einer guten Zwei im Englisch-Leistungskurs steht sie auf einmal auf einer guten Vier. "Meine Lehrerin meinte, das liege nur daran, dass sie die Antworten vom Ministerium als Vorlage nehmen muss", sagt Desiree, "sonst hätte ich 13 Punkte von ihr bekommen - weil ich einen richtigen, aber anderen Gedankengang hatte als das Ministerium."
Schülervertreter Horst Wenzel hält angesichts solcher Beispiele die Idee des Zentralabiturs für komplett gescheitert: "Zur angestrebten Qualitätssteigerung im Bildungssystem tragen solche Pannen jedenfalls nicht bei. Lernen kann nur individuell gelingen - und das Paradoxe am Zentralabitur ist, dass es dabei gerade nicht um Individualität geht." Moderne Pädagogik sehe jedenfalls anders aus.
*Name geändert