Urteil Kruzifix im Klassenzimmer verletzt Religionsfreiheit

Mit Kreuzen in den Klassenräumen staatlicher Schulen verstößt Italien gegen europäisches Recht. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Eine Mutter von zwei Kindern erhält 5000 Euro Entschädigung, Italiens Bildungsministerium reagierte zornig auf das Urteil.
Foto: FRANK BOXLER/ ASSOCIATED PRESS

Straßburg - Ein christliches Kreuz im Klassenzimmer einer Staatsschule verletzt die Religionsfreiheit der Schüler. Sie nimmt zudem Eltern die Freiheit, ihre Kinder nach ihren philosophischen Überzeugungen zu erziehen, und ist nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Zu diesem Urteil kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig am Dienstag in Straßburg.

Das Gericht sprach der italienischen Mutter Soile Lautsi 5000 Euro Entschädigung zu. Im Schuljahr 2001/02 besuchten ihre Kinder, damals 11 und 13 Jahre alt, in Abano Terme eine staatliche Schule, in der alle Klassenzimmer ein Kreuz an der Wand hatten. Lautsi verlangte, die Kreuze zu entfernen und ihre Kinder in Räumen ohne religiöse Symbole unterrichten zu lassen. Sie berief sich dabei auf ein Urteil des italienischen Kassationsgerichts, dem zufolge Kreuze in Wahlbüros gegen die religiöse Neutralität des Staates verstoßen.

Die streitbare Mutter klagte sich durch alle italienischen Instanzen und scheiterte stets. So stellte ein Verwaltungsgericht 2005 fest, das Kruzifix in der Schule sei "ein Symbol der italienischen Geschichte und Kultur und folglich der italienischen Identität". Auch die obersten Richter Italiens wiesen die Klage 2006 ab, weil die Kreuze in der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche zu einem eigenen Wert geworden seien.

Die Straßburger Richter sahen das ganz anders: Die Schüler könnten das Kreuz leicht als religiöses Zeichen interpretieren. Für Schüler anderer Religionen oder für bekenntnislose Kinder könne dies störend sein. Die Freiheit, keiner Religion anzugehören, brauche jedoch besonderen Schutz. Es sei nicht zu erkennen, wie das Zeigen eines "Symbols, das vernünftigerweise mit dem Katholizismus verbunden werden kann", dem für eine demokratische Gesellschaft wesentlichen Bildungspluralismus dienen könne.

Bildungsministerium tobt gegen "ideologisches Gericht"

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung des Rechts der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder und einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit der Kinder fest. Das obligatorische Anbringen des Symbols einer bestimmten Glaubensüberzeugung in Klassenzimmern beschränke unzulässig das Recht der Eltern, ihre Kinder in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen zu erziehen, sowie "das Recht der Kinder, zu glauben oder nicht zu glauben".

Das italienische Bildungsministerium reagierte empört und verbat sich die Verurteilung. Das Kruzifix in den Klassenzimmern sei nicht als "Zustimmung zum Katholizismus" zu sehen, sondern als "Zeichen unserer Tradition", zitierte die italienische Nachrichtenagentur Ansa eine zornige Stellungnahme des Ministeriums. "Niemandem, und schon gar nicht einem ideologischen europäischen Gericht, wird es gelingen, unsere Identität zu unterdrücken."

Um Kreuze in Klassenzimmer hat es auch im ähnlich katholisch geprägten Bayern wiederholt heftige Auseinandersetzungen gegeben. 1995 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein umstrittenes Kruzifix-Urteil und entschied, dass die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen gegen die Religionsfreiheit verstoße. Mit diesem Urteil wurde das bayerische Gesetz für nichtig erklärt, nach dem in bayerischen Schulen Kreuze oder Kruzifixe angebracht werden mussten.

Daraufhin verabschiedete der bayerische Landtag ein neues Gesetz, wonach das Kreuz abgehängt werden muss, wenn ein Erziehungsberechtigter dem Anbringen des Kreuzes aus Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung widerspricht. Völlige Klarheit geschaffen hat das eher nicht. So klagten mehrfach Lehrer gegen religiöse Symbole im Unterricht. Die Kreuze bleiben trotzdem hängen, entschied zum Beispiel das Verwaltungsgericht Augsburg 2008: Der Lehrer habe zwar ein Recht auf Gewissensfreiheit, sei aber als Erwachsener im Gegensatz zu minderjährigen Schülern in seiner Persönlichkeit gefestigt.

jol/DDP/dpa/AFP
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