Vermisstensuche auf Facebook Wo bist du, Mutter?

Via Facebook sucht Marco Hauenstein nach seiner Familie, weltweit bekommt der 19-Jährige dabei Unterstützung. Seine Großmutter und eine Tante findet er - dann bekommt er eine erschütternde Nachricht.
Marco Hauenstein

Marco Hauenstein

Foto: Fabienne Kinzelmann

Ein unscheinbares Einfamilienhaus im Schweizer Kanton Aargau. Als er endlich vor der richtigen Tür steht, ist Marco nervös. Ein Hinweis hat ihn hierhergeführt. Jemand schrieb ihm den Ort und die Straße, in der eine ältere Frau wohnt, die den gleichen Nachnamen trägt wie er: Hauenstein. Ob das seine Oma sein könne?

Marco Hauenstein, 19, ist ein Pflegekind. Er kennt seine leiblichen Verwandten nicht. Von seiner Mutter weiß er nur, dass sie bei der Geburt heroinsüchtig war. Auf dem rechten Auge ist Marco deswegen blind. Als Baby musste er durch den Entzug, mehr als drei Monate, so hat er es in den Akten im Kinderheim gelesen, in dem er die ersten sechs Lebensjahre verbracht hat. Dort fand er auch einen Kommentar des behandelnden Arztes: Es sei der schlimmste Drogenentzug, den dieser je bei einem Säugling erlebt habe.

Marco als Baby mit seiner Mutter Gina

Marco als Baby mit seiner Mutter Gina

Foto: Privat

"Ich bin nicht hässig auf sie", sagt Marco in Schweizer Mundart. Nicht hässig, das heißt, er ist nicht sauer. Er sitzt in einem Café in Zug, 20 Minuten von Zürich entfernt, und trinkt einen Espresso. Er mag den Namen Hauenstein gar nicht so gern, erzählt Marco. Auf Facebook nennt er sich darum Schelling - so wie die Pflegefamilie, bei der er die meiste Zeit aufwuchs. Trotzdem will er wissen: Wer ist die Frau, die mich auf die Welt gebracht hat? Was macht sie heute? Und: Warum ist sie einfach verschwunden?

Am Anfang besuchte ihn die Mutter wohl noch einige Male im Kinderheim. Seit Februar 2000 galt Gina Hauenstein als vermisst, kein Lebenszeichen, keinen Hinweis. Doch Marco war sich sicher, dass sie nicht tot ist: "Das habe ich gespürt."

Er überlegte lange, wie er sie finden könnte - und startete im Januar 2017 schließlich einen Facebook-Aufruf mit einem knapp 20 Jahre alten Foto seiner Mutter. Viele Anhaltspunkte hat der Teenager ansonsten nicht, über seinen Vater weiß er gar nichts. Seit der Facebook-Post online ist, wurde er knapp achttausendmal geteilt, Menschen aus aller Welt unterstützen ihn, gehen Hinweisen nach, hören sich um. Auch der Rapper Kay One teilte Marcos Suche auf Facebook und wünschte viel Erfolg.

Schon ein paar Tage nach dem Start der Suchaktion kam der Hinweis auf seine Großmutter. Mit zwei Freunden lief Marco die genannte Straße ab, schaute auf jeden Briefkasten, jedes Klingelschild, bis er das Haus fand. Dann stand er allein davor und fragte sich: Was sage ich? Wie erkläre ich, wer ich bin? Seine Oma aber erkannte ihn sofort, sie hatte schon von der Suchaktion gehört. "Da hab ich nur noch gebrüllt." Gebrüllt: heftig geweint. Die Oma bat ihn rein, eine Stunde redeten sie. Wie es jetzt weitergeht, darüber haben sie jedoch nicht gesprochen. Auch Marco muss das Treffen erst mal verdauen.

Kurz darauf telefonierte er mit seiner Tante, einer Halbschwester seiner Mutter, die den Aufruf selbst auf Facebook gesehen und ihm daraufhin geschrieben hatte, wie froh sie darüber sei - auch sie hätte schon versucht, ihn ausfindig zu machen. "Der Anruf war ziemlich emotional für uns beide", sagt Marco.

Doch die öffentliche Suchaktion hat auch ihre Schattenseiten: Nachdem ein Reporter die Tante aufgesucht und sie angerufen hatte, stellte sie den Kontakt zu Marco direkt wieder ein. Als Lehrerin will sie nicht mit der komplizierten Familiengeschichte in der Öffentlichkeit stehen.

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Trotzdem: Für Marco war es ein Hoffnungsschimmer, dass er seine ersten leiblichen Verwandten finden konnte - auch wenn beide ihm keine Informationen über den Verbleib seiner Mutter geben konnten. Sie hatten seit Jahren nichts von ihr gehört.

Der Teenager will gemocht werden - und dass Menschen ihn positiv wahrnehmen. Zum Interview kommt er überpünktlich, die dunklen Haare gestylt, einen grauen Wollpulli, schicke Schuhe. Fotografieren lässt er sich am liebsten von der linken Seite, auf der das Auge nicht blind ist. "Ich will gepflegt wirken", sagt er. In die Schule sei er manchmal sogar im Anzug gegangen - obwohl er die Schule ansonsten "über alles" gehasst habe.

Es ist eine schwierige Kindheit, von der Marco erzählt: Die Schule lief nicht so richtig, nur Sport und Musik gefielen ihm. Noch während der Schulzeit verkrachte er sich mit seiner Pflegefamilie und zog erst zu Freunden, dann ins Heim. Nach dem neunten Schuljahr begann er eine Lehre als Klempner, aber auch das lief nicht so richtig, und nach einem Unfall brach er ab. Auch eine zweite Lehre zum Detailhandelsfachmann scheiterte, kurz vor Weihnachten kündigte Marco.

Marco als Trainer mit seiner Jugendmannschaft

Marco als Trainer mit seiner Jugendmannschaft

Foto: Privat

Nun will er bald als Fitnesstrainer starten, in seiner Freizeit trainiert er eine Jugendmannschaft im Fußball und ist Schiedsrichter. Auch bei einer Castingshow will er sich irgendwann mal bewerben: Er singe gern, am liebsten italienische und spanische Lieder, die hätten mehr Temperament. Jetzt wolle er sich aber erst mal auf die Suche konzentrieren.

Die Hilfe, die ihm über Facebook zuteilwurde, überwältigt Marco noch immer. Sein Handy klingele andauernd, sagt er. Ständig kommen neue Hinweise, viele davon laufen ins Leere. Das strengt an. "Am Wochenende musste ich immer erst mal runterkommen und relaxen." Es wollen so viele helfen, dass es ihn manchmal belaste, dass er nichts zurückgeben könne. "Ein Danke ist noch viel zu wenig für das, was manche meiner Helfer getan haben."

Dann kommt ein Hinweis, seine Mutter könnte im Ausland sein. "Sobald irgendwas sicher ist, setze ich mich sofort ins Flugzeug", sagt Marco dazu. Und: "Wenn sie lebt, dann finden wir sie."

Doch nur wenige Tage später die traurige Gewissheit: Marcos Mutter Gina Hauenstein ist tot.

Marco Hauenstein

Marco Hauenstein

Foto: Fabienne Kinzelmann

Was genau passiert und wie sie ums Leben gekommen ist, ist unklar. Was man weiß: Im Landkreis Waldshut in Deutschland wurde 2013 ein menschlicher Oberschenkelknochen gefunden. Ganz in der Nähe, in Kleindöttingen, war Gina Hauenstein zuletzt gemeldet.

Die Aargauer Kantonspolizei veranlasste damals eine rechtsmedizinische Abklärung beim Institut für Rechtsmedizin in Bern. Anfang 2015 bestätigte das Institut: Der Knochen stammt von der Vermissten. Doch ein Fehler der zuständigen Kantonspolizei verhinderte, dass Marco vom Tod seiner Mutter erfuhr: Die Information wurde nicht an die für den Fund zuständige deutsche Strafverfolgungsbehörde weitergeleitet.

Erst durch den Facebook-Aufruf wurde der Fall wieder aufgerollt. Ohne Marcos Aufruf und die Berichterstattung wären wohl noch Jahre ins Land gegangen, ohne dass ihn oder den Rest der Familie die Information vom Tode Gina Hauensteins erreicht hätte, teilte die Kantonspolizei mit: "Wir bedauern unseren Fehler sehr."

Wenige Tage später kann Marco die Nachricht noch immer nicht richtig glauben. Falls es doch so wäre, sagt er, möchte er sie richtig bestatten lassen. Wenigstens das.

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