Vertretungslehrer Dr. Sommer "Mit Hand und Haut endlose Lust entfachen"
11.05 Uhr: Die Schüler gucken verwirrt - wer ist der alte Mann da vorne an der Tafel? Klassenlehrerin Frau Bütow erklärt: "Da wir in den letzten paar Stunden ziemlich im Clinch lagen, habe ich gedacht, das wäre mal eine Abwechslung." Und was für eine!
Dr. Sommer: Ich bin Martin Goldstein, der erste Dr. Sommer, und halte jetzt eine Stunde zum Thema "Schamgefühl bei Jugendlichen". Ich bin schwerhörig. Wenn ich euch nicht verstehe, lächele ich entweder freundlich oder frage nach.
Der Doktor selbst ist eher schamgefühlskalt er kommt gleich zum heißen Brei mit einer Erinnerung an seine Kindheit:
Dr. Sommer: Ich war drei oder vier. Meine Mutter badete mich, und ich gestand ihr meine heimliche Sorge. Ich fragte: "Woher wisst ihr, dass ich ein Junge bin?" Da wurde sie ganz still und guckte peinlich berührt nach unten. Schließlich sagte sie: "Untenrum sehen Mädchen anders aus."
11.08 Uhr: So richtig warm sind die Schüler mit dem Thema noch nicht. Dr. Sommer will das Eis mit einer Übung zum Schmelzen bringen und sehen, wie prüde die Meute ist. Er schreibt "Untenrum" an die Tafel.
Dr. Sommer: Gehört dieses Wort für euch eindeutig zum weiblichen Geschlecht?
Die Schüler schweigen und blicken schüchtern umher. Offenbar haben sie die Stunde dringend nötig, ist doch allen die Sache sichtlich unangenehm.
Dr. Sommer: Gut, dann schreibe ich noch ein Wort an, was eindeutig zum männlichen Geschlecht gehört.
Jetzt steht auch "Penis" an der Tafel. Zwei, drei Schüler kichern natürlich.
Dr. Sommer: Jetzt bitte ich euch, für die zwei Wörter Synonyme zu finden. Egal, ob sie erlaubt oder unerlaubt, üblich oder unüblich sind. Wer möchte anfangen?
Ein paar werden rot. Alle gucken überall hin, nur nicht nach vorne. Auf persönliche Bitte geht schließlich einer der Schüler vor und schreibt unter Penis "Geschlechtsteil". Die Kreide wandert, "Schwanz" und "Glied" werden schüchtern ergänzt. Niemand reißt sich um das weiße Schreibstück. Nur Vicky sieht die Sache gelassen.
Vicky: Och, ihr seid doch feige.
Sie geht vor und schreibt "Vagina" an.
11.24 Uhr: Dr. Sommer ist unzufrieden mit der mageren Ausbeute an Synonymen. Natürlich stürmt erst mal keiner nach vorne, aber dass sich das auch nach zehn Minuten nicht ändert, finden selbst wir irgendwie albern. Marcus schlägt wenigstens noch "Fotze" vor, selber anschreiben will er es aber nicht schließlich sei er schon vorne gewesen. Na, Marcus, da gab es aber schon bessere Ausreden.
11.26 Uhr: Die Kreide bleibt liegen. Also weiter im Stoff: Wir teilen in der Klasse aktuelle Briefe an das Dr.-Sommer-Team aus. 400 kommen jede Woche bei der "Bravo" an weil es vielen einfacher fällt, einen anonymen Brief zu schreiben als Freunde zu fragen. In mancher Pubertät hilft beides nicht, da sind Hopfen und Karamalz längst verloren, glaubt Till: "Jemand hat mal gefragt, ob man vom Fingern schwanger werden kann." Dr. Sommer lächelt freundlich.
Till: Das kann man sich ja auch selber beantworten.
Jetzt fragt Dr. Sommer nach: "Was?"
Till: Na, ob man vom Fingern schwanger werden kann.
Dr. Sommer: Vom Fingern? Was ist denn das?
Genau, Till, erklär doch mal. Dr. Sommer lächelt diesmal sicher nicht aus Schwerhörigkeit.
Till: Na, dass man auch anders Sex haben kann. Dass man dafür den Finger mehr so im Intimbereich benutzt.
Dr. Sommer: Es ist die Frage, ob es eine Sache der Bildung oder der Erfahrung ist. Sie fragt sich einfach, ob es Gefahren gibt. Nein, wenn man den Finger benutzt, erweckt das nur große Lustgefühle. Das kann ich sehr empfehlen.
Rote Gesichter, verschämte Blicke
11:32 Uhr. Christine liest den Brief "Wie geht Blasen?" vor. Als sie auch die Antwort vorlesen will, unterbricht sie Dr. Sommer.
Dr. Sommer: Was haltet ihr davon?
Antonia: Sie ist wahrscheinlich unerfahren.
Dr. Sommer: Ist das eine dumme Frage?
Antonia: Nein, das ist keine dumme Frage. Ich finde, das könnte man auch Freunde fragen. Ich würde da keinen Brief schreiben.
Dr. Sommer: Hast du das deine Freunde schon mal gefragt?
Die anderen feixen und gucken neugierig zu Antonia. Sie lächelt unsicher, sagt aber nichts.
Dr. Sommer: Es kommt auch darauf an, ob derjenige sich nur erkundigen will oder ob er es vorhat. Wenn er seine Freundin fragt, dann sagt sie vielleicht "Na klar, leg dich hin, ich mach dir das" und dabei wollte er sich doch nur erkundigen! Überhaupt ist der Begriff Blasen völliger Quatsch, das sieht nur so aus. Eigentlich ist es ein zärtliches Lecken und Lutschen.
Ein paar grinsen verhalten, andere nicken zustimmend und lächeln irgendwie wissend. Ist das Eis jetzt gebrochen? Dr. Sommer hakt nach:
Dr. Sommer: Gibt es auch andere Tabuthemen außer Sex?
Schweigen im Walde. Wer nicht reden will, muss eben schreiben: Die Schüler sollen ihre persönlichen Tabuthemen zu Papier bringen.
11.43 Uhr: Alle gucken auf ihren oder schielen auf des Nachbarn Zettel. Dr. Sommer ergänzt in der Zwischenzeit Yoni, Muschi und Schniedel an der Tafel.
Dr. Sommer: Will jemand seine Aspekte nennen?
Till: Ich glaube, ich würde es erst mal keinem sagen, wenn ich schwul wäre. Oder wenn ich etwas geklaut hätte.
Sonst traut sich wieder keiner. Till ergreift die Initiative. Er sammelt die Zettel ein und bringt sie nach vorne, Frau Bütow schreibt an: "Versagen im Bett" und erntet viel Gelächter.
Dr. Sommer: Es gehört zur Sexualität, dass man sie nicht einfach anknipsen kann. Wenn ich Versagen im Bett erlebt habe, sage ich zu meiner Frau "Ich kann heute nicht". Dann habe ich natürlich große Angst, dass sie sagt "Scheiße. Wann kommst du denn endlich zur Sache?" Aber eine Frau, die sagt: "Du kannst mich auch streicheln. Leg' deine Hand auf meinen Bauch und dabei belassen wir es für heute" die würde ich lieben.
Till: Mir wäre es peinlich, wenn ich mit einer Frau Sex habe und auf einmal will der Penis nicht so, wie ich will.
Dr. Sommer: Das klingt, als hättest du eine Befürchtung.
Till: Ich stelle mir das nur einfach komisch vor.
11.50 Uhr: Es klingelt. Die Tür geht auf. Aus der Klasse tönt ein "Fotze" ja ja, aber anschreiben wollte es keiner... Die Schüler opfern noch zehn Minuten ihrer Pause. Jetzt dürfen sie Fragen stellen. Der Haken: Vor uns sitzen zwar keine Tomaten mehr, aber offenbar immer noch ein paar Fische.
11.54 Uhr: Immer noch Stille. Dann beginnen wir eben mit dem Bauchlöchern.
Anne: Denkt ihr, dass irgendwann niemand mehr an Dr. Sommer schreiben wird, weil dann alles geklärt ist?
Till: Nein, es wird immer junge Mädels und Jungen geben, die zum Beispiel ihr erstes Mal haben und dazu Fragen stellen.
Dr. Sommer: Es wäre schön, wenn es eine Zeit gäbe, in der alles geklärt wäre. Es geht nicht um Aufklärung, sondern darum, dass man einen Gegenüber hat, mit dem man sich austauschen kann. Über Sexualität wird viel zu wenig gesprochen. Vieles wird stillschweigend erlebt und dann stillschweigend abgelegt.
12.00 Uhr: Das ist wohl auch den Schülern vor uns so gegangen. Zum Schluss verrät Dr. Sommer noch zwei Geheimnisse von wegen Schweigepflicht.
Dr. Sommer: Das eine ist: Die größten und wichtigsten Geschlechtsorgane sind die Hände und die Haut. Mit denen kann man ein Feuer entfachen und Lust machen, was schier endlos ist. Da kommt kein Penis mit. Es gibt noch viel Scham, zu streicheln und zu fühlen. Viele erleben so nicht, was sie eigentlich erleben können: Wie sich Fühlen anfühlt. Mit Vögeln allein ist man nicht so gut dran.
Bei dem anderen könnt ihr mich auslachen. Es gibt eine Menge Geschlechtsorgane, bei denen entsteht keine Scham, sondern das Gegenteil: Begeisterung, Bewunderung. Alle Blumen, all ihre Blüten sind nichts anderes als Geschlechtsorgane. Deswegen sind die auch so reizvoll, und man kann lernen, dass man mit menschlichen Geschlechtsorganen auch so umgeht. Das sind nämlich auch Blüten mit ihren eigenen Reizen.
12:07 Uhr. In Händen und Haut liegt die Zukunft, und Dahlien haben auch Untenrums die Schüler wirken beeindruckt und gehen nicht sofort in Pausengelärme über, als Dr. Sommer sich verabschiedet: Eine gute Zwei bekommt der etwas schwerhörige Mann mit den Blüten ohne Bienchen.
Aufgezeichnet von Resi Schneider