Vorstoß der Wirtschaft Schon Vierjährige sollen in die Schule
Berlin - Ein Pädagoge gibt Gas: Wenn es darum geht, auf Reformen an den Schulen zu drängen, nimmt Dieter Lenzen kein Blatt vor den Mund. Der heutige Präsident der FU Berlin wurde seinerzeit als "Professor Speed" bekannt, weil er sich bereits mit 28 Jahren habilitierte. Auch knapp zwei Jahrzehnte später wahrt der Erziehungswissenschaftler alle Chancen auf eine Auszeichnung als "Galopper der Jahres". Das Reformprogramm, das er für Deutschlands Schulen vorschlägt, hat es in sich.
"Bildung neu denken" heißt die Studie, die Lenzen gemeinsam mit anderen Autoren für die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft verfasst hat. Und wenn die Forderungen der Experten Schule machen, wird es für die Schüler mächtig ungemütlich: Bereits ab vier Jahren sollen Kinder eingeschult werden, auch samstags zum Unterricht gehen und außerdem deutlich weniger Ferien haben.
Für die Sechs-Tage-Woche an Schulen hatte Lenzen sich bereits im Mai ausgesprochen. Der Samstagsunterricht müsse bundesweit wieder eingeführt werden, schon weil die Pause von Freitagmittag bis Montagmorgen zu lang sei - "da wird vieles wieder vergessen".
Die Ferien sollen gleich mit auf den Prüfstand. "Älteren Schülern sollten wir die Ferien auf den Umfang verkürzen, der auch Auszubildenden in der Lehre zusteht, nämlich acht Wochen im Jahr", sagte der Erziehungswissenschaftler jetzt in einem Interview mit der "Zeit". In den Ferien könnten Schüler individuell gefördert werden, etwa durch Nachholkurse für schwache oder Spezialangebote für besonders gute Schüler.
"Bei der Ganztagsschule sind wir auf dem richtigen Weg", so der FU-Präsident. Das reicht ihm aber noch längst nicht. Obendrein plädiert er für eine "Einschulung bereits mit vier Jahren sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Kindergarten und der Grundschule". Wo Lenzen hinsieht, ortet er unverantwortliche Zeitverschwendung: "Wir schulen die Kinder nicht nur sehr spät ein. Wir halten sie auch viel zu lange in der Schule. Zwischendurch lassen wir einen großen Teil der Schüler auch noch eine Klasse wiederholen", kritisierte er in der "Zeit".
Tempo, Tempo, Tempo, wir haben keine Zeit
Den drastischen Reformkatalog der Studie begründet Mitautor Lenzen nur zum kleineren Teil pädagogisch ("Wir wissen, dass viele Kinder und Jugendliche sich im Unterricht langweilen"), vor allem aber demografisch. Nach seiner Auffassung müssen die Bildungsinstitutionen schleunigst darauf reagieren, dass "immer weniger junge Leute immer mehr ältere ernähren". Für das 2020 rechnet der Wissenschaftler ein Verhältnis von einem Erwerbstätigen zu vier anderen Menschen vor und prophezeit düster: "In 10 bis 15 Jahren werden wir Erwachsene ohne Kinder massiv besteuern müssen."
Bislang sei die Diskussion um den demografischen Wandel auf Rente und Gesundheitswesen reduziert geblieben. So sehen es auch die 70 beteiligten Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Bildungspraxis, die in der Untersuchung der bayerischen Wirtschaft vor dem Hintergrund der Überalterung der Gesellschaft dringende Reformen anmahnen.
Laut Studie wird die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland in den kommenden 40 Jahren von 40 auf 25 Millionen zurückgehen. Der Anteil der innovativsten Altersgruppe, der 30- bis 39-Jährigen, werde von heute 30 Prozent auf 23 Prozent im Jahr 2020 sinken, so Lenzen: "Deutschland steuert auf einen dramatischen Arbeitskräftemangel zu."
"Wir brauchen eine Abi-Quote von 70 Prozent"
Den Hinweis auf die Millionen von Arbeitslosen lässt der FU-Präsident nicht gelten, denn "die werden wir auch behalten". Deutschland habe gleichzeitig zu viele und zu wenige Arbeitskräfte, sagt Lenzen: zu viele schlecht ausgebildete und zu wenige Hochqualifizierte. "Uns bleibt deshalb nichts anderes übrig, als die eigene Bevölkerung auf ein höheres Bildungsniveau zu heben." Lenzen fordert eine "massive Qualifizierungsoffensive für alle Altersschichten", in erster Linie eine weit höhere Abiturquote als bisher - um die 70 Prozent sollen es nach seinen Vorstellungen werden.
Davon ist Deutschland bisher weit entfernt. Im internationalen Vergleich erreichen nur wenige junge Menschen die Hochschulreife. Und davon nehmen wiederum wenige ein Hochschulstudium auf. Gegenüber den wichtigen Industrieländern in der OECD hinkt Deutschland bei der Abiturientenquote hinterher: Im Durchschnitt kommen die OECD-Länder auf 57 Prozent; in Deutschland dagegen verlassen lediglich 37 Prozent eines Altersjahrganges die Schule mit Abitur oder Fachhochschulreife. Schlusslicht der Bundesländer ist Bayern mit weniger als einem Viertel Abiturienten.
Zur Qualifizierungsoffensive gehöre neben der Erhöhung der Abiturientenquote aber auch, junge Menschen ohne Abitur stärker zu fördern. "Jeder fünfte Schulabgänger - das hat Pisa gezeigt - ist den Anforderungen von Lehre und Berufsschule nicht gewachsen", sagte Lenzen. Es gehe also darum, die Zahl der Hochqualifizierten zu vermehren und gleichzeitig die Zahl der Lernschwachen zu verringern - und eben die "Leistungsträger von morgen" früher zu unterrichten.