Wikipedia-Talente Wie Jugendliche uns die Welt erklären

Junge Wikipedia-Autoren: Wie Kinder uns die Welt erklären
Jaan-Cornelius Kibelka hat Wikipedia seine Jugend geschenkt. Mit 14 Jahren besuchte er die Seite zum ersten Mal, mit 15 wählte ihn die Gemeinschaft zum Administrator. Etwa drei bis vier Stunden klickte er sich täglich durchs Lexikon. In den Ferien länger. "Ich war süchtig", sagt er.
Auf seiner Beobachtungsliste standen bis zu 3000 Artikel, wenn sich irgendwo etwas änderte, sah er es sofort. "Du schreibst einen Artikel und wartest dann auf Reaktionen", sagt er. "Es ist wie eine Anerkennung: Wow, andere lesen meinen Text."
Heute gehört Wikipedia neben Google und Facebook weltweit zu den fünf beliebtesten Web-Seiten. Die englischsprachige Wikipedia ist mit 3,4 Millionen Einträgen die größte, die deutschsprachige folgt mit 1,1 Millionen Einträgen auf Platz zwei. Mitarbeiten darf jeder - auch Kinder, die das Alphabet erst seit ein paar Jahren beherrschen.
"In der Wikipedia ist Alter irrelevant. Ein Glück!", sagt Jaan-Cornelius Kibelka, inzwischen 20 Jahre alt. "Ich werde hier an meiner Leistung gemessen, nicht an meinem Alter. Und wenn du deine Arbeit gut machst, fällt gar nicht auf, wie jung du bist."
80 Prozent der Wikipedianer sind männlich
Jaan-Cornelius spezialisierte sich auf U-Bahnhöfe und Berlin, später schrieb er auch über Portugal, weil er dort ein Jahr zur Schule ging, und über Argentinien, weil er dort als Zivi arbeitete. In seiner Wikipedia-Karriere hat er bislang etwa 400 Artikel überwiegend selbst verfasst und 34.000-mal Artikel verbessert. Seiner Mutter schenkte er zu deren Habilitation sogar einen eigenen Eintrag. Damit gehörte er einst zu den jüngsten und aktivsten Autoren Deutschlands.
Er sucht auch heute noch zusammen mit den 289 anderen Administratoren nach Vandalismus, nach Leuten, die wieder "Scheiße" oder "Fuck" in den Text geschmiert haben. Etwa tausend Menschen arbeiten sehr engagiert in der Wikipedia-Gemeinde mit, das heißt, sie machen mindestens hundert Bearbeitungen pro Monat. Daneben gibt es Tausende, die deutlich weniger Zeit investieren.
Die Wikipedianer selbst versuchen stets, mehr über sich zu erfahren. "Wikipedistik" nennen sie das. Was sie zusammengetragen haben, liest sich so: Der typische Wikipedianer ist 34 Jahre alt, arbeitet Vollzeit und lebt als Single. Ferner sind an die 80 Prozent der Wikipedianer männlich und nur vier Prozent jünger als 18 Jahre.
Jaan-Cornelius gehörte also als Minderheit zur Mehrheit. Heute ist er 20 und feilt gerade an einer Bewerbung für das Auswärtige Amt. Zu den Jüngsten gehört er also nicht mehr. Doch es gibt einige andere Jungwikipedianer, die nachgerückt sind - sie erzählen, wie sie Feuer fingen für die Arbeit am Online-Lexikon.
Ben Gallmeister, 15: "Mein erster Artikel war etwas holprig"

Ben Gallmeister ist Fachmann für American Football - und will in Harvard studieren
Foto: Ben GallmeisterBen Gallmeister fand Wikipedia schlecht, deswegen machte er mit. Damals, als er elf Jahre alt war, suchte er nach Informationen zu Football-Spielern und fand kaum etwas. In den vergangenen vier Jahren hat er mehr als hundert Artikel zum Thema geschrieben. Zudem hat er rund 15.000-mal Texte bearbeitet.
Dann bist du der Experte für American-Football in Deutschland?
Das kann man so sagen.
Freust du dich darüber?
Ja, sicher.
Und willst gar keine Konkurrenz?
Muss nicht sein.
"Mein erster Artikel war noch etwas holprig", sagt er. Er habe die Formatierung nicht beherrscht: Wann muss ich ein Wort fetten? Wie füge ich das Geburtsdatum richtig ein? Wie layoute ich die Infokästen?
Bis vor den Sommerferien widmete er Wikipedia drei bis vier Stunden täglich. "Wahrscheinlich bin ich einfach der Typ für so etwas", sagt er. Schließlich schenkt er seine Freizeit nicht nur den Lexikon-Nutzern, sondern gibt auch Schülern im Bekanntenkreis kostenlos Nachhilfe, hauptsächlich in Mathe, Englisch und Deutsch.
Kaum noch Zeit für Wikipedia: Ben lernt fürs Abi und für Harvard
Für seinen Wikipedia-Einsatz hat ihm noch niemand gedankt. Das sei auch zu viel verlangt, sagt Ben. "Aber es gibt in der Wikipedia durch die 'exzellenten und lesenswerten Artikel' quasi eine Danksagung der Gemeinschaft. Mit zwei Artikeln habe ich das schon geschafft", sagt er. Wikipedia ruft regelmäßig zu Schreibwettbewerben auf, bei denen Autoren ihre Artikel einreichen können. "Exzellent" - besser geht es nicht.
Jetzt, nach den Sommerferien, bereitet Ben sich auf sein Abitur vor. Dreimal übersprang er eine Klasse, im nächsten Jahr möchte er in Harvard studieren, gerade durchläuft er die Aufnahmeprüfungen. Er war bislang noch nicht länger im Ausland, abgesehen von zwei Wochen Hawaii und vier Wochen Miami. Sein Bruder lebte ein Jahr in den USA, mit ihm spricht er manchmal zu Hause Englisch. Für Harvard muss das erst einmal reichen.
Für Wikipedia bleibt da momentan nicht viel Zeit. Auch nicht für seine Football-Mannschaft. Früher trainierte er zweimal pro Woche, die anderen Tage ging er ins Fitnessstudio. Seinen alten Football-Helm hat er in sein Zimmer in eine Vitrine gelegt, neben den Helm von seiner Lieblingscollegemannschaft aus den USA. An der Wand hängen Trikots, Poster und alte Eintrittskarten.
Wenn es mit Harvard klappt, spielt er dort wieder. Und von dort schreibt er sicher weitere Artikel für Wikipedia. Schließlich hat er nichts dagegen, der Football-Experte in Deutschland zu bleiben.
Niklas Berger, 14: "Manchmal zeige ich die Artikel meinem Opa"

Niklas Berger ist seit mehr als einem Jahr dabei. Sein Interessensgebiet: die Ostfront
Foto: STAR FotoatelierIrgendwie war es Niklas' Opa, der ihn zu einem Wikipedia-Experten gemacht hat. Im Jahr 1945 flüchtete der Großvater, 15 Jahre alt, als Sudetendeutscher nach Österreich. Als sein Enkelkind etwa zehn Jahre alt war, nahm er es mit ins Heeresgeschichtliche Museum in Wien. Dort geht es um die Geschichte Österreichs von der Habsburger Monarchie bis zum Jahr 1945.
"Mein Opa hat mir immer viel vom Krieg erzählt", sagt Niklas. Heute, vier Jahre nach dem Museumsbesuch, avanciert Niklas zum Nationalsozialismus-Experten in der Wikipedia-Gemeinde. Als er sich bei den Jungwikipedianern, eine Gemeinschaft für Autoren unter 18 Jahren, um Aufnahme bewarb, schrieb er, dass im Bereich Nationalsozialismus noch Bedarf bestehe. "Zum Teil sind die Artikel auf einem konstant hohen Niveau (…), aber die Artikel über die Ostfront haben bis auf wenige Ausnahmen einen nicht so hohen Standard, weshalb ich mich darum kümmern möchte, diesen zu verbessern."
Niklas' Texte sind für Opa ein Lebenselixier
Im vergangenen März hat er sich bei Wikipedia angemeldet, seitdem hat er rund 30 Artikel geschrieben. Sie handeln unter anderem von der 7. und 48. Infanterie-Division, von der 17. und 22. Panzer-Division und der Armeeabteilung Fretter-Pico. "Ich zeige meinem Opa manchmal meine Artikel", sagt Niklas. "Der findet das toll." Manchmal sage er dann, er möchte noch 40 Jahre leben, um noch mehr über den Krieg zu erfahren.
Keiner von Niklas' Freunden teilt seine Leidenschaft für Wikipedia und sein Interesse für den Zweiten Weltkrieg. Mit ihnen spielt er auch lieber Tennis oder Handball, als über das Online-Lexikon oder den Krieg zu diskutieren.
Aber bei Wikipedia verschwimmen die Altersgrenzen, da findet er Verbündete. Einer seiner Mentoren ist 50 Jahre älter als er, mit ihm schreibt er gerade an einem Artikel über den ehemaligen Kriegsminister von Österreich-Ungarn. "Ich finde Wikipedia gut, weil ich mit Menschen aus verschiedenen Generationen zusammenarbeiten kann", sagt Niklas.
Niklas besucht in Österreich die neunte Klasse des Bundesgymnasiums Klosterneuburg. Sein Lieblingsfach ist Geschichte. Wie es so läuft in der Schule? "Das geht immer ganz gut", sagt er. Das heißt? "Fast alles Einser."
Robin Krahl, 16: "Irgendjemand muss es ja machen"

Robin Krahl will etwas zurückgeben - schließlich nutzt er Wikipedia auch
Foto: Martin Rulsch / Wikimedia CommonManchmal frustriert es Robin Krahl, dass ihm selten jemand dankt. Mehr als tausend Stunden hat er bislang in Wikipedia investiert. Mit 13 Jahren meldete er sich an, heute ist er 16, gehört zu den jüngsten Administratoren und verbringt täglich etwa eine Stunde im Lexikon. Mal mehr, mal weniger. "Irgendjemand muss es ja machen", sagt er.
Robin besucht die 13. Klasse des Markgrafen-Gymnasiums in Karlsruhe-Durlach, die zehnte hat er übersprungen. In seinem Bücherregal stehen einige Krimis und Science-Fiction-Bücher, einige Sachbücher über Mathe, Bio, Physik und ein paar Lexika, vor allem Informatik-Lexika. Vielleicht möchte er nach dem Abi Informatik studieren, im vergangenen Jahr besuchte er in dem Fachbereich ein paar Vorlesungen an der Uni. Manchmal programmiert er auch für Wikipedia oder für sich, Adressbücher zum Beispiel oder ein Programm, mit dem sich DVDs katalogisieren lassen.
Eigene Artikel schreibt er kaum, dafür fehlt ihm das Fachwissen
Vielleicht studiert er später aber auch Jura. Bei Wikipedia kümmert er sich nämlich vor allem um die Bildrechte, das gefällt ihm. Er schreibt Fotografen an und fragt, ob Wikipedia das Foto verwenden darf. Die danken Robin dann manchmal für sein Engagement. Der Schüler zieht aber manchmal auch selbst mit seiner Kamera los. Als er in den Urlaub nach Prag gefahren ist, hat er vorher bei Wikipedia nachgeschaut, wo noch Bilder fehlen und fotografierte dann eine Büste.
Eigene Texte schreibt er kaum. Dafür fehle ihm das Fachwissen, sagt er. Immerhin an die 50 Artikel legte Robin bislang an, viele davon übersetzte er aus dem Englischen, über den britischen Politiker Alfred Waddington zum Beispiel oder den amerikanischen Verbrecher Daryl Atkins.
Warum er das alles macht? "Ich möchte etwas zurückgeben", sagt er. "Schließlich nutze ich Wikipedia auch." Außerdem fasziniert ihn die riesige Leserschaft.
Wikipedia sei bei weitem nicht perfekt, findet er: Da seien die "Vandalen", die ständig versuchten, Texte böswillig zu zerstören oder zu löschen; andere würzten Artikel mit ihrer eigenen Meinung oder beleidigten sich gegenseitig. Auch die sogenannten "Edit Wars" seien nervig, wenn also Bearbeiter ihre Änderungen gegenseitig ständig wieder rückgängig machen.
Und dennoch: Das Prinzip bei Wikipedia sei nicht zu toppen. "Wenn ich zum Beispiel in einer Zeitung einen Fehler entdecke und kann es nicht ändern, wird mir jedes Mal wieder bewusst, wie gut Wikipedia eigentlich ist", sagt er.