Zeugen Jehovas Beten, bis die Welt untergeht

Sie leben isoliert, ersehnen das Paradies nach dem Weltuntergang herbei und klopfen ungefragt an jede Haustür - Lukas L. ist Zeuge Jehovas. Christian Fuchs war auf Missionstour mit einem 18-Jährigen, der sich rigiden Regeln unterwirft und später Gottes Gärtner werden will.

Rumms! Die Tür ist zu. Nur einen Spaltbreit hatte der Mann seine Wohnungstür geöffnet, nachdem Lukas L. bei ihm geklingelt hatte. Lukas klappt seine Mini-Bibel wieder zu und steigt die Stufen zum nächsten Stockwerk hinauf. Seit vier Stunden läuft Lukas schon durch Hamburg, um Menschen vom Wort Jehovas zu überzeugen. Bisher ohne Erfolg.

"Darf ich Ihnen kurz zeigen, was die Bibel über unsere Zukunft sagt?", fragt er, wenn sich endlich eine Tür öffnet. Dann schauen die Leute den Schüler mit den strohblonden Haaren verwundert an. Meist steht Lukas jedoch verloren in Hausfluren und vor Klingelbrettern, die Türen bleiben verschlossen.

Lukas ist einer von 165.000 deutschen Zeugen Jehovas, einer Glaubensgemeinschaft, die nur in Berlin staatlich anerkannt ist. Er glaubt daran, dass die Welt in Kürze durch ein "Harmagedon" untergehen wird und im Paradies nur die Zeugen Jehovas erwachen werden, weil sie nach einer strengen Bibelauslegung im Sinne Jehovas, also Gottes, leben.

Dafür unterwirft sich Lukas rigiden religiösen Regeln. Um Jehova zu gefallen, versuchen Zeugen wie Lukas, Ungläubige von seinem Wort zu überzeugen; mit dem "Wachtturm" in der Fußgängerzone oder mit der "Heiligen Schrift" im Predigtdienst an den Haustüren.

"Ich fühle mich wie Noah"

Lukas trägt auf seiner Haustür-Mission einen braunen Anorak, Hemd, Krawatte und einen braun-beigen Wollpullover. Nach drei Stunden hat er das erste Mal Erfolg: Ein Schüler mit Baseballcap bleibt im Treppenhaus stehen und hört zu, wie Lukas ihm aus der Bibel vorliest. Dann fragt er:

"Spielt Gott in deinem Leben noch eine Rolle?"
"Ähh, ja."
"Hast du dich in dieser Stelle wiedererkannt?
"Hmm, na ja, eher nicht so."
"Macht ja nichts, ist heute auch alles so komplex in dieser Welt."
"Hmm."
"Vielleicht kann ich dich ja noch einmal später besuchen kommen, wenn du mehr Zeit hast und nicht so im Hausflur?"
"Ja, ok."

Später notiert sich Lukas den Nachnamen des Jungen vom Klingelschild. Nach dem Vornamen hat er nicht gefragt. "Ich fühle mich ein bisschen wie Noah, dem hat auch niemand geglaubt, dass die Sintflut kommen wird", sagt Lukas. "Aber wir haben es besser, uns hört manchmal noch jemand zu."

Dreimal haben die Zeugen Jehovas den Weltuntergang bereits verkündet - er kam nicht. Was fasziniert junge Menschen am Glauben an ein baldiges Ende?

Bibelkreis und Predigtdienst

"Jehova-Gott ist wie ein Freund", sagt Lukas. Er sitzt am Schreibtisch in seinem Kinderzimmer, an der Wand hängt eine Tafel, auf die er mit Kreide "Bibellesen" geschrieben hat. Viel mehr kann Lukas hier auch nicht tun. Ein paar Bücher liegen unter dem Tisch, "Steppenwolf" von Hermann Hesse und "Alles ist erleuchtet" von Jonathan Safran Foer.

Es gibt ein Aquarium, aber keinen Computer, keine Musikanlage, keinen Fernseher. Lukas war noch nie in einer Disko, noch ist er auf einer Gartenparty betrunken abgestürzt. "Das ist eine ganz andere Welt, die mich gar nicht reizt." 20 Euro Taschengeld pro Monat reichen ihm völlig.

Sex vor der Ehe ist ihm nicht erlaubt, er darf sich nicht mal allein in der Nähe eines Mädchens aufhalten. "Wenn ich sie unglaublich toll finden würde, wäre das Risiko zu groß. Denn wenn man einmal in Fahrt ist, geht’s dann auch weiter", sagt Lukas.

Mit 15 hat er sich in der Kieler Ostseehalle taufen lassen. Seine Eltern, die seit seiner Geburt Zeugen Jehovas sind, saßen unter den Tausenden Zuschauern. Die Entscheidung zur Ganzkörpertaufe habe er aber ganz allein gefällt. Seitdem lebt er diszipliniert, um Jehova zu gefallen. "Manchmal sitze ich einfach rum und entspanne", sagt Lukas. "Ich bin anspruchslos geworden in meiner Freizeitgestaltung."

Viel freie Zeit hat er sowieso nicht. Während andere 18-Jährige skaten, sich Musik aus dem Internet herunterladen oder verliebt mit ihrer ersten Freundin knutschen, muss Lukas einen strengen Wochenplan befolgen.

  • Sonntag: Gottesdienst im "Königreichssaal", der Kirche der Zeugen
  • Montag: Predigtdienst an den Haustüren
  • Dienstag: "Theokratische Bibelschule"
  • Mittwoch: Bibelstudium zu Hause
  • Donnerstag: Bibelkreis
  • Freitag und Samstag: wieder Haustür-Mission und Heimbibelstudien

Mindestens 16 Stunden ist Lukas pro Woche im Auftrag des Herrn unterwegs. Fast 800 Stunden im Jahr.

Aussteiger bei den Zeugen Jehovas - Was sie sagen

"Für Christus endlich kam die Zeit, als König zu regieren. Bald lecken seine Feinde Staub, und er wird triumphieren." Lukas schmettert das Eröffnungslied zum "Theokratischen Bibelstudium" mit seiner Bass-Stimme durch den "Königreichssaal".

80 Menschen sind gekommen, wie jeden Dienstagabend. Der Saal ähnelt einem Seminarraum aus den siebziger Jahren, mit schweren Vorhänge an den Wänden und Neonlicht über der holzvertäfelten Bühne. Nur ein Bibelvers an der Wand verrät den Gottesraum.

Auf Lukas’ Schoß liegt seine ledergebundene Studienbibel. Zwei "Schwestern" sitzen vor der Versammlung an einem Tisch und halten ein grünes und ein orangefarbiges Mikro. Eine Frau spielt eine Zeugin, die andere eine kranke Nachbarin. In einem einstudierten Rollenspiel zeigen sie der Gemeinde, wie man andere Menschen in Gespräche über Gott verwickelt.

Ähnlich wie beim Gottesdienst am Sonntag sind alle Abläufe formalisiert, niemand widerspricht, zuerst liest einer Bibelpassagen vor, danach fasst die Gemeinde diese zusammen. Der Versammlungsleiter lobt jeden Auftritt. Immer wieder stellt ein Moderator rhetorische Fragen: "Wer eignet sich, die Welt zu regieren?"

Überall auf der Welt sehen Zusammenkünfte der Zeugen gleich aus. Darüber wacht die Wachtturm-Gesellschaft, der Verein hinter dem Glauben. Alles ist festgeschrieben, sogar wann in Zusammenkünften geklatscht werden darf.

Auf Ausstieg folgt Ächtung

Die häufigen Treffen, die Bibelstudien, die Rituale sollen die Mitglieder daran hindern, auf falsche Gedanken zu kommen, sagt Melanie Hartmann, 28. Sie ist vor drei Jahren bei den Zeugen ausgestiegen. Heute leitet sie das Netzwerk Sektenausstieg e.V. und sagt: "Wegen der Zeugen habe ich die Leichtigkeit meiner Jugend verpasst."

Heute wirft sie der Wachtturm-Gesellschaft vor, sie verbiete ein selbstbestimmtes Leben. "Egal ob Berufswahl, Kleidung, Bildung - man kann nichts selbst entscheiden", sagt Melanie Hartmann. "Mir wurde tief eingepflanzt, dass die Welt untergehen wird. Aber ich wollte überleben, nicht sterben." Trotz Zweifeln blieb sie 15 Jahre lang Zeugin. Heute wird sie als "Abtrünnige" von anderen Zeugen gemieden.

Lukas hat keine Freunde außerhalb der Zeugen-Gemeinde. An den vergangenen beiden Klassenfahrten hat er nicht teilgenommen, im Musikunterricht singt er nie mit, wenn im Advent "Oh Du Fröhliche" angestimmt wird. Weihnachten ist für ihn ein heidnischer Brauch - genauso wie Ostern und Geburtstagspartys. Darum feiern Zeugen diese Feste nicht.

Am Ende der zwölften Klasse wird Lukas das Gymnasium abbrechen, studieren will er nicht. "Predigen ist mir wichtiger als Karriere", sagt er. Am liebsten würde er nach dem Zivildienst halbtags missionieren und die restliche Zeit als Gärtner arbeiten. "Das stelle ich mir später im Paradies schön vor, die zerstörte Erde wieder aufzubauen und Gärten zu pflanzen." Es wirkt nicht merkwürdig, wenn Lukas so etwas sagt, vielmehr strahlt er dabei Gelassenheit aus.

Sportunterricht, neunte und zehnte Stunde im "Gymnasium Allee" in Hamburg-Altona. Lukas hält die Sicherheitsleine, an der ein Mitschüler in sechs Metern Höhe an der Kletterwand unter der Turnhallendecke hängt. "Ey, Yussuf, Alter", lärmt ein türkischer Mitschüler; zwei Mädchen in dünnen Leggings und brustbetonten Tops kichern. Lukas hält die Leine straff, er bleibt davon unbeeindruckt - ein bisschen wie ein Erwachsener unter Kindern. "Lukas kenne ich nicht gut", sagt ein Mitschüler, "aber er ist verdammt nett, freundlich und hilfsbereit."

Hat er schon einmal nach der Schule etwas mit seinen Klassenkameraden unternommen? "Selten", sagt Lukas, "ich war immer schon verabredet, wenn die mal gemeinsam ins Kino gehen wollten." So wie heute. Nach dem Unterricht stehen alle auf dem Schulhof, rauchen, reden. Nur Lukas verlässt das Gelände schnellen Schrittes.

Gleich trifft er sich mit seinem Freund. Mit Jehova. Die Studienbibel liegt zu Hause schon aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch.

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