
Eine Sektenaussteigerin erzählt: Leben auf dem Minenfeld
Leben nach der Sekte "Ich habe keine Wurzeln und keine Kraft zu fliegen"
Als Kind dachte sie, Schläge gehören zum Leben; Schläge mit der Rute, manchmal auf den nackten Po, manchmal nur auf die Unterhose. Als Jugendliche ahnte sie, die Qualen sind falsch. Gewehrt hat sie sich trotzdem nicht. Heute wird sie von niemandem mehr geschlagen, nur noch nachts in ihren Träumen.
Amitsa kam in einer Sekte zur Welt: 16 Jahre lebte sie mit ihren Eltern und fünf Geschwistern bei den "Zwölf Stämmen", erst in Frankreich, später in Pennigbüttel bei Bremen, dann im bayerischen Wörnitz. Seit zwanzig Jahren schon kennen die deutschen Behörden Misshandlungsvorwürfe gegen die Sekte, die sich auf das Alte Testament beruft: Wen der Herr liebt, den züchtigt er. Die Mitglieder tragen lange Haare und wallende Kleider, sie glauben, dass die Welt 2026 untergeht, dass alle vom Satan besessen sind, nur sie nicht.
In ihrer Welt ist auch Amitsa besessen. Sie hat die "Zwölf Stämme" vor rund vier Jahren verlassen. Mit dem Teufel kann die Sekte leicht all das erklären, was seitdem schiefgelaufen ist in Amitsas Leben, die Bauchschmerzen, die kaputte Ehe, den Schulabbruch. So muss sich kein Mitglied fragen: Was ist mein Anteil?
Was will ich, wenn niemand mir sagt, was ich wollen muss?
Amitsa ist jetzt 19 Jahre alt, interessiert, höflich, hübsch, sie lacht oft, kurz und hoch, etwas unsicher. Sie spricht Deutsch mit amerikanischem Akzent, weil in der Sekte viele nur Englisch miteinander reden, die Stämme verteilen sich auf mehrere Länder, die USA, Brasilien, Spanien, Tschechien.
Wenn Amitsa von früher erzählt, knibbelt sie den Lack von ihren Fingernnägeln ab, dann knetet sie ihre Hände, verdreht die Augen, ringt um Worte. Sie sagt, wer in frischen Zement trete, der verursache Spuren. "Bei mir ist ein Abdruck hinterlassen, der geht nicht so schnell weg."
Mit jedem Schlag haben die Erwachsenen das Kind Amitsa ein bisschen mehr geformt, einfügen sollte sie sich in die Gemeinschaft. Wie ein Roboter, sagt Amitsa, und die Anführer säßen an den Knöpfen. Jetzt muss Amitsa lernen, allein zu funktionieren. Sie versucht herauszufinden, wer sie ist und was sie will, wenn niemand ihr sagt, was sie wollen muss.
Sie ist es gewohnt, schlecht behandelt zu werden. Sie hat nicht erfahren, was Freundschaft ist, was Liebe. Etwa ein Jahr nach dem Austritt lernte sie einen amerikanischen Soldaten im Internet kennen, sie heirateten im vergangenen Sommer. Als er in einer SMS schrieb, er habe sie betrogen und mit der Frau ein Kind, reagierte Amitsa nicht. Ja, es tat weh. Aber ist das nicht normal?
"Es ist nicht so, dass ich meine Eltern hasse"
Amitsa weiß nicht mehr, wie oft sie in der Sekte geschlagen wurde. Es begann morgens nach dem Aufstehen und endete beim Schlafengehen. Die erwachsenen Sektenmitglieder griffen zur Rute, wenn sie sich beim Vorlesen verhaspelte, wenn sie lachte, wenn sie sich weigerte, einen vermeintlichen Fehler einzusehen, wenn sie ihn dann doch gestand. So erzählt sie es. Über ihre Eltern möchte Amitsa nicht sprechen, sie würden sich ohnehin schon Vorwürfe machen. Sie sagt nur: "Es ist nicht so, dass ich meine Eltern hasse, aber es ist schwer zu verstehen, warum wir das durchmachen mussten."
In der Sekte versuchte Amitsa, allen zu gefallen und Fehler zu vermeiden. Das strengt an, die ständige Wachsamkeit. Wie ein Leben auf dem Minenfeld, sagt Amitsa, jede Minute eine Explosion. "So lernst du, niemandem zu vertrauen."
Amitsa verzweifelte mehr und mehr. Sie fragte ihren Bruder und ihre Mutter, ob sie wirklich glücklich seien. Ihr Bruder schnitt sich die Haare ab, sie kamen nicht mehr zum Gebet, stellten Fragen, das störte den Sektenalltag. Das beschmutze die anderen, sagten die Ältesten in der Sekte. Ein Bruder und eine Schwester blieben, Amitsa, ihre Eltern, zwei Brüder und eine Schwester mussten gehen. Die Schwester lässt sich in der Psychiatrie behandeln.
Als die bayerischen Behörden im vergangenen September in einem Großeinsatz 40 Kinder aus den Gemeinschaften in Klosterzimmern und Wörnitz holten, waren auch die Kinder von Amitsas Geschwistern darunter. Es habe "neuerliche Hinweise auf erhebliche und dauerhafte Kindesmisshandlung durch die Mitglieder gegeben", teilte das Landratsamt Donau-Ries damals mit.
Das Jugendamt brachte die Kinder in Pflegefamilien und Heime. Kurz darauf begannen die ersten Verfahren vor Gerichten in Ansbach und Nördlingen, auch Amitsa sagte aus. Es wird dauern, bis die Richter entscheiden, ob den Eltern dauerhaft das Sorgerecht entzogen wird. Ein paar Kinder ließen sie zu ihren Eltern zurückkehren, vorerst zumindest. Ihnen drohe keine Gefahr, sagten die Richter. Sie seien - nach Maßstäben der Sekte - entweder noch zu jung für Rutenschläge oder schon zu alt. Die Kinder sagten, sie wollten zurück. Sie lieben ihre Eltern - welches Kind tut das nicht? Die Sekte feiert die Rückkehrer: "Wir sind so dankbar, dass die Menschlichkeit doch gesiegt hat", schreiben Mitglieder in ihrem Blog .
Amitsa sagt, sie mache das wütend. Wütend, dass die Mitglieder lügen und verharmlosen, was sie getan haben. Wütend, dass die Mitglieder ihrerseits behaupten, Amitsa und die anderen Aussteiger würden lügen und übertreiben, was sie erlebt haben. Im Internet schreiben sie : Eine "Korrektur in Liebe und aus Liebe" sei immer zum Wohle des Kindes. Mehr sagen sie auf Anfrage nicht.

Wenn Amitsa an die Sekte denkt, und das tut sie oft, dann raucht sie, dann hört sie Musik, harten, wütenden Rap, oder sie malt Aquarelle. Ein Bild zeigt einen Baum, den eine Hand aus dem Boden reißt und zur Sonne biegt. Amitsa sagte: "Ich habe keine Wurzeln und keine Kraft zu fliegen."
Dabei würde sie gern. Nach dem Austritt probierte und genoss sie all das, was sie vorher nie durfte: Sie aß Schokolade, schnitt sich die Haare ab, kaufte sich einen Bikini, surfte im Internet, schaute aus Neugier Pornos, denn aufgeklärt wurde sie nicht. Sie verabredete sich online mit einem jungen Mann, schlief mit ihm. Ihr Schreibtisch ist eine einzige Provokation: Kaffeemaschine, Zigarettenschachteln, Laptop, Haarspray und eine Palette mit 120 Lidschattenfarben. Bei Facebook lädt sie viele Fotos von sich hoch, mit hohen Pumps, mit engem Rock, mit kurzem Rock. Sie giert nach Aufmerksamkeit und Bestätigung, um ihre Selbstzweifel zu betäuben.
Nach dem Austritt schaffte Amitsa den Realschulabschluss und beendete eine Ausbildung zur staatlichen geprüften Hauswirtschaftshelferin, lieber hätte sie Zahnarzthelferin gelernt. Später versuchte sie es am Gymnasium, in der ersten Deutschklausur schrieb sie null Punkte. Im Dezember musste sie die Schule verlassen, es hat nicht gereicht. Jetzt hofft sie auf einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma.
Für das Vorstellungsgespräch hat sie Zeugnisse und Lebenslauf dabei. "Haben Sie denn schon Berufserfahrung", fragt der Mann. Amitsa nickt. Er schaut auf den Lebenslauf. "Ah ja, Ferienjobs." Der Lebenslauf sei etwas unübersichtlich, sagt er, die Schreibschrift nicht so leserlich, auch ein Foto fehle, und Rechtschreibfehler müssten auch nicht sein. "Nur ein Tipp, keine Kritik, passiert mir auch", sagt er freundlich. Ob sie Deutsche sei? Amitsa sagt, dass sie mit Englisch aufgewachsen sei und eine Zeit im Ausland gelebt habe, aber ja, sie sei Deutsche. Ob sie lesen könne? Ja, lesen kann sie.
Nach dem Gespräch raucht Amitsa und zittert, der Alltag strengt manchmal an. Und trotzdem sagt sie, sie sei glücklicher als vorher, viel glücklicher.
Irgendwann möchte sie gern in die USA auswandern, dort hat sie Verwandte und einige Freunde, ebenfalls Aussteiger. Noch hält die Sekte sie in Deutschland: Sie will die Verfahren abwarten und aussagen, wenn sie gebraucht wird, sie würde gern mit einem Anwalt sprechen und prüfen, was sie noch tun kann. Sie möchte den Kindern helfen, damit sie normal aufwachsen, mit Menschen, die lieben können, ohne zu schlagen. Sie sagt, es müsse weitergehen.