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Dump Diving: Essbares aus der Supermarkt-Tonne

Foto: Eric Thayer/ REUTERS

Abfall-Delikatessen Kopfüber tauchen in der Mülltonne

"Dump Diver" fischen Lebensmittel aus den Abfallcontainern der Supermärkte. So lässt sich ordentlich Geld sparen - oft reicht die Beute einer Nacht für eine ganze Woche im Studentenhaushalt. Für die Mülldurchwühler bedeuten ihre Streifzüge auch Kritik an der Wegwerfgesellschaft.
Von Natascha Wank

Samstag, kurz nach Mitternacht, irgendwo in Mainz. Ein guter Zeitpunkt, um bei Rewe vorbeizuschauen.

Mit einem Wanderrucksack macht sich Biologiestudent Alex (Name von der Redaktion geändert), 24 Jahre alt, auf den Weg zum Supermarkt. Die Nacht ist kalt, der Himmel sternenklar.

Alex ist "Dump Diver". Das klingt nach einer neuen Extremsportart, aber damit hat es absolut nichts zu tun. Ein Dump Diver, zu Deutsch: Mülltaucher, betritt die Supermärkte nicht durch die Eingangstür. Sein Revier ist der Hinterhof, dort, wo sich die Abfallcontainer reihen. Seine Beute: Salat mit etwas welken Blättern, angetrocknetes Brot, Kekse in beschädigten Packungen. Alles, was die Betreiber des Supermarkts nicht mehr verkaufen wollen.

Alex gehört schon seit zwei Jahren zu der Szene. Stetig wächst die Zahl derer, die sich ihr anschließen, gerade in Universitätsstädten wie Mainz, Köln oder Hamburg. Dort durchforsten die Lebensmitteljäger den Müll der Supermärkte fast jede Nacht. Die Streifzüge gehören mittlerweile zu Alex' Studentenleben wie der Gang in die Bibliothek. Er kennt seine Edeka-, Plus- oder Penny-Läden. Oder vielmehr deren Kehrseite.

Täter aus Überzeugung - gegen die Wegwerfgesellschaft

Treibt ihn Geldnot? "Nein", sagt Alex. Er verdiene sein Geld mit Nachhilfestunden, die Ersparnis sei für ihn nur ein positiver Nebeneffekt. Der Student ist ein Überzeugungstäter, er "containert", um ein Zeichen zu setzen: gegen die Wegwerfgesellschaft, gegen die vorschnelle Entsorgung von Grundnahrungsmitteln, gegen den "Irrsinn", dass etwas im Müll landet, was Menschen noch gebrauchen können.

Heute Nacht zieht es Alex in einen tristen Vorort zu einer Rewe-Filiale, die er von früheren Besuchen her kennt. Der Laden ist rund um die Uhr erleuchtet, auch jetzt, wie ein Casino, das hohen Gewinn verspricht. Um an die Container zu gelangen, muss er erst ein paar Hindernisse überwinden - deutsche Supermärkte schließen ihre Abfälle ein. Sonst könnte, wer Lebensmittel aus den Mülltonnen fischt und daran erkrankt, die Betreiber verklagen.

Alex läuft vorbei am Haupteingang, wo Plakate für Orangen und Sekt werben, die Flasche für 1,49 Euro. Dann steht er vor einem schwarzen Eisentor. Es ist verziert mit goldfarbenen Ornamenten und verrammelt mit einem Sicherheitsschloss. Alex wirkt entspannt, er schaut sich kurz um, die Luft ist rein. Er wird nun etwas tun, was ihm vor Gericht eine Verurteilung wegen Einbruchdiebstahls einbringen könnte. Bisher sind Dump Diver, die erwischt wurden, an deutschen Amtsgerichten zwar glimpflich davongekommen. Doch theoretisch wären auch Gefängnisstrafen drin.

"Es ist ein bisschen, als würde man in einer Schatztruhe wühlen"

Der Student schwingt sich gekonnt übers Tor, dann schleicht er dicht an einer Betonmauer entlang, weil es im Hof Bewegungsmelder gibt, die einen Alarm auslösen könnten. Kurz darauf steht er vor neun großen Müllcontainern. Schwaden süßlicher Verwesung dringen aus den Behältern, so riecht fauliges Gemüse, ranziges Fett, Fleisch jenseits des Verfallsdatums. Doch der Gestank täusche darüber hinweg, sagt Alex, dass sich "in jedem Container etwas finden lässt, was noch gut ist".

Alex stellt seinen Rucksack ab, zieht sich schwarze Lederhandschuhe über, zückt seine Taschenlampe und leuchtet in den ersten Container hinein. "Ich glaube, die Tour wird ganz erfolgreich", murmelt er, kopfüber in die schwarze Mülltonne gelehnt. Der Biologiestudent fischt zwei Packungen gekochten Schinken heraus, vier Packungen Kloß-Teig, sieben Packungen Brotaufstrich und frischen Schnittlauch, dann wendet er sich den anderen Containern zu.

"Es ist ein bisschen, als würde man in einer Schatztruhe wühlen", sagt er und findet dann noch Paprika, Tomaten, Blumenkohl, Salat, Orangen, Melonen, Camembert und Antipasti. Die nächtliche Besorgung an den Rewe-Containern dauert etwas länger als eine halbe Stunde, dann ist der Beutezug beendet und das nächste Essen perfekt.

Alex wirkt ein bisschen stolz. Sein Rucksack, Fassungsvermögen 60 Liter, ist voll, der Reißverschluss lässt sich kaum noch schließen. Die Ausbeute sei "okay", urteilt er, "in richtig guten Nächten finde ich noch mehr, und die Auswahl ist noch vielfältiger".

Kleine Makel verwandeln genießbare Lebensmittel in Müll

Dump Diving wurde vor etwa 15 Jahren in den USA populär, wo nach Erkenntnissen des Washingtoner World-Watch-Instituts 40 bis 50 Prozent der Lebensmittel in den Müll wandern, obwohl sie noch gegessen werden könnten.

Wie viele Tonnen Speisen jedes Jahr in den Abfallcontainern der deutschen Supermärkte landen, ist statistisch nicht erfasst. Aber eine Studie aus Österreich hat ergeben, dass eine einzige Filiale knapp 50 Kilogramm pro Tag entsorgt. Für Aktivisten wie Alex sind die Gründe oft fadenscheinig: "Wir schmeißen Essen weg", sagt er, "nur weil es übertriebene gesetzliche Vorschriften gibt, und das, wo doch viele Menschen nichts haben. In unserer Gesellschaft ist nur noch das Beste gut genug."

Kleine Makel, Abweichungen in Gewicht, Form, Farbe oder das überschrittene Mindesthaltbarkeitsdatum verwandeln genießbare Lebensmittel in Müll. Es ist oftmals zu teuer, beschädigte Packungen oder Etiketten neu fertigen zu lassen, oder zu zeitaufwendig, bekleckerte Ware zu reinigen. So landet schnell eine komplette Palette Erdbeerjoghurt, über der ein Becher Buttermilch ausgelaufen ist, im Container - eine Glücksfall für Mülltaucher.

Bezahlen für Lebensmittel? "Das mache ich nicht mehr"

Zahlen, wie viele Dump Diver sich hierzulande aus dem Container ernähren, gibt es nicht. Doch Einträge auf zahlreichen Blogs, wo Mülltaucher ihre Erfahrungen mit bestimmten Supermarktfilialen und deren Sicherheitsvorkehrungen austauschen, lassen vermuten, dass es Tausende sind.

Gerade unter Studenten hat sich herumgesprochen, dass es sich oft um einwandfreie, sogar leckere Lebensmittel handelt, die auf der Müllkippe landen, viel Obst und Gemüse zum Beispiel, das aufgrund der schnellen Verderblichkeit ganz oben auf der Wegwerfliste der Supermärkte steht. Deswegen ist Dump Diving auch in Alex' Bekanntenkreis längst zum Alltag geworden: "Fast jeder, den ich kenne, macht das." Oft zieht er nachts mit einer ganzen Mannschaft los, die Beute wird dann geteilt.

Von innen hat Alex schon lange keinen Supermarkt mehr gesehen - bei einem einzigen Streifzug findet er so viel, dass er damit die ganze Woche über die Runden kommt. Bezahlen für Lebensmittel? "Das mache ich nicht mehr", sagt der Student.

Zum Mittagessen am nächsten Tag soll es eine asiatische Gemüsepfanne geben, erzählt Alex auf dem Heimweg. Der Rucksack hängt tief und schwer auf seinen Rücken. Und übermorgen? Alex zuckt mit den Schultern. Er wird sich vom Inhalt des nächsten Müllcontainers inspirieren lassen.

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