Ausgebrannte Studenten Lost in Perfection

Prüfungsdruck, Zukunftsangst, Perfektionswahn - der Uni-Stress nimmt zu, viele Studenten fühlen sich überfordert. So brennen die Hochqualifizierten von morgen aus, bevor sie ihre Karrieren überhaupt gestartet haben. Vor einer Therapie schrecken viele zurück.
Ausgebrannt, bevor es losgeht: Studenten verzweifeln zunehmend am Uni-Stress

Ausgebrannt, bevor es losgeht: Studenten verzweifeln zunehmend am Uni-Stress

Foto: Corbis

Wer bei Frau Orgel im Zimmer sitzt, blickt durch das Fenster auf Plattenbauten und hofft auf einen neuen Anfang. Wer bei Frau Orgel sitzt, blickt mit Angst in die Zukunft: Angst vor der nächsten Klausur, dem Studium, dem Leben. Wer hier sitzt, hat eine Schachtel mit Taschentüchern vor sich und das diffuse Gefühl: Mir ist alles zu viel.

Eva-Maria Orgel sitzt auf ihrem Stuhl vor dem Fenster, die Brille in der Hand. Sie ist Psychotherapeutin und kennt so viele unglückliche Studenten wie kaum jemand. Seit 18 Jahren arbeitet sie in der psychologischen Beratungsstelle des Berliner Studentenwerks, hört sich Geschichten an über Schreibblockaden und Prüfungsängste, über Panik-Attacken und Schweißausbrüche, 25 Termine pro Woche plus Gruppensitzungen. Wer heute studiere, sagt sie, der versuche perfekt zu sein - beste Noten, Auslandssemester, Praktika; alles am liebsten in sechs Semestern. "Es gibt keinen Raum mehr für Unvollkommenheit." Lost in Perfection.

Zu Frau Orgel kommen jene, die daran zerbrechen. Leistungsträger von morgen, die verzweifeln, bevor die Karriere richtig beginnt - ausgebrannt vom Uni-Stress.

Das Burnout hat die Hochschulen erreicht

Da war die 26-jährige Master-Studentin, Einser-Kandidatin, Doktorandenstelle in Aussicht. Vor den entscheidenden Prüfungen ging plötzlich nichts mehr, sie schlief kaum, das Herz raste, Zweifel zerfraßen ihr Selbstvertrauen. Orgel hörte zu, hörte die Geschichte einer Frau, die sich um andere kümmerte, um die psychisch kranke Schwester, den drogenabhängigen Bruder; hörte von einer Frau, die sich selbst vergaß und irgendwann nicht mehr konnte. "Wir haben sie ein Semester lang psychotherapeutisch begleitet", sagt Orgel, "und dann weitervermittelt, in eine ambulante Psychotherapie."

Burnout

Das -Syndrom hat die Hochschulen erreicht. Orgel und ihre Kollegen, Psychologen und Studienberater aus Uni-Städten wie Berlin, Göttingen, Münster, erleben in ihren Sprechstunden, wie erschöpft und überfordert sich die Studenten fühlen.

Die Therapeuten berichten übereinstimmend: Das Problem hat sich verschärft, mehr Studenten als noch vor einigen Jahren fühlen sich ausgebrannt. In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse gibt jeder siebte Student an, unter depressiven Verstimmungen zu leiden. Sie klagen über Zeitstress und Hektik. Sie bekämpfen die Erschöpfung und Trübheit auch mit Medikamenten: Studenten, die älter sind als 25, bekommen mehr Psychopharmaka verschrieben als Gleichaltrige, die bereits arbeiten.

"Sogar die Liebe fühlt sich taub an"

In Internet-Foren schreiben ausgebrannte Studenten über Antriebslosigkeit, Konzentrationsprobleme, Weinkrämpfe. "Ich fühle eigentlich fast gar nichts", heißt es da, "weder besondere Angst, noch Freude. Sogar die Liebe fühlt sich taub an." Die manchmal seitenlangen Beiträge dokumentieren, wie den künftigen Akademikern klar wird: Irgendwas läuft verdammt schief.

Der Druck beginnt jedoch schon vor der Immatrikulation. Jeder dritte Schüler in Deutschland hat mit Stress-Symptomen zu kämpfen, offenbart eine Studie der Universität Lüneburg für die Deutsche Angestellten Krankenkasse. Sie sind gereizt, niedergeschlagen, nervös; der Kopf tut weh, der Rücken, der Bauch. Die Hälfte der Schüler mit solchen Beschwerden verzweifele in der Schule, schreiben die Wissenschaftler.

"Es trifft nicht nur Führungskräfte in der Wirtschaft, sondern zunehmend junge Menschen, von denen man gemeinhin denkt, dass sie eine lockere Zeit haben", sagt Günter Reich, der die psychotherapeutische Ambulanz der Universität Göttingen leitet. Fast jeder zweite Student kommt zu ihm und seinen Kollegen mit Belastungsstörungen oder Depressionen. Nicht alle leiden unter Burnout, doch die Therapeuten sind alarmiert.

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Zunehmend klappen auch jene Studenten zusammen, denen es sonst gut ging, die sich nicht herumschlagen müssen mit einem drogenabhängigen Bruder oder einer kranken Schwester. Wenn der Druck steigt, erwischt es irgendwann auch die Stabilen.

"Viele Studenten neigen zur Selbstausbeutung"

Von einer 20-Jährigen im zweiten Semester erzählt Ulrike Mälzig, Ärztin und Psychotherapeutin an der Göttinger Ambulanz: Die Studentin hatte im ersten Semester einen Schnitt von 1,3, kein Grund zur Sorge eigentlich. Doch sie lernte bis zu 16 Stunden am Tag, auch am Wochenende, ging nicht mehr feiern und nicht mehr zum Sport. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nichts zu begreifen. Kurz vor den Klausuren saß sie in ihrer WG und weinte - tagelang. Erst dann holte sie sich Hilfe. "Viele Studenten neigen zur Selbstausbeutung", sagt Mälzig. "Die kommen vollkommen erschöpft zu uns, haben manchmal seit Tagen nicht geschlafen."

In den ersten Sitzungen versuchen die Therapeuten, die Studenten zu stabilisieren. Wie lassen sich Pausen in den Tag bauen? Welche Prüfungen sind wirklich wichtig? Reicht es nicht, einen Kurs ins nächste Semester zu schieben? Manchmal hilft aber nur noch die Krankschreibung. "In der ersten Phase geht es darum, den Zugang zu eigenen Ressourcen wieder herzustellen", sagt Mälzig. Alles andere kommt später, die Suche nach den tieferen Ursachen, das Herausarbeiten von Verhaltensmustern. Wie bei einem Ertrinkenden, dem man einen Rettungsring zuwirft, um ihn an Land zu ziehen. Warum er ins Wasser gefallen ist, darum geht es erst, wenn er wieder festen Boden unter den Füßen hat.

Doch viele zögern, sich Hilfe zu holen. Manche aus Scham, weil Therapie sich für sie anhört wie Niederlage, wie Schwäche. Manche fürchten aber auch um ihren künftigen Job. "Juristen und Lehrer können Probleme bei der Verbeamtung bekommen, wenn sie sich psychotherapeutisch haben behandeln lassen ", sagt Mälzig. "Das ist gängige Praxis." Das gefährde die Zukunftschancen der Studenten, die sich Hilfe suchen.

Deshalb behandeln einige Ambulanzen und Beratungsstellen ihre studentischen Patienten auch ohne Krankenschein, so dass niemand davon erfährt, auch die Krankenversicherung nicht. Die Therapie soll nicht zur Karrierebremse werden.

Lassen Bachelor und Master die Studenten verzweifeln?

Für Studentenvertreter ist ziemlich klar, wer schuld ist an der Überlastung: Bachelor und Master, deren Einführung zu überfrachteten Studiengängen führe. Das Deutsche Studentenwerk warnte schon im Jahr 2007 vor dem "Studieren bis zum Umfallen". Laut dessen Sozialerhebung brauche bereits jeder siebte Student eine Beratung zu Themen wie "depressive Verstimmungen".

Die Therapeuten wollen sich da allerdings nicht eindeutig festlegen. "Ich würde nicht alles auf den Bologna-Prozess schieben", sagt Ulrike Mälzig aus Göttingen. Jedoch könne die verschulte Struktur zu mehr Stress führen - selbst wenn Bachelor-Studenten nicht mehr Zeit aufs Studium verwenden als ihre Diplom- und Magsiter-Vorgänger. "Viele Studenten wollen wenigstens den Bachelor fertig machen, auch wenn sie vollkommen unglücklich in ihrem Fach sind."

Zudem fürchteten Studenten, dass sie ohne Top-Noten keinen Master-Platz bekommen und ohne Master keinen Job, sagt Eva-Maria Orgel. Viele setzen sich aber auch selbst unter Druck: "Es herrscht das Gefühl, sich unbedingt durchbeißen zu müssen, und das möglichst schnell", sagt die Berliner Therapeutin. "Diese extreme Rastlosigkeit ist neu." Ihre Burnout-Kandidaten müssen erst wieder lernen, es ruhiger angehen zu lassen.

Von den Langzeit-Studenten früherer Tage, bei denen die Semesterzahl das Lebensalter übersteigt, können sich die jungen Ehrgeizigen das Relaxen allerdings kaum abgucken. Die sind selten geworden in Orgels Beratungsstelle. Studenten verzweifeln nicht mehr so sehr an ihrer Bummelei - es ist ihr Tempo, das sie aus der Bahn wirft.

Fühlen Sie sich ausgebrannt? Einen anerkannten Selbsttest finden Sie hier . Bitte bedenken Sie aber, dass es sich nur um einen kurzen Test handelt, der keine psychologische Untersuchung und Diagnose ersetzen kann.

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