Big Brother für Wüstenforscher Kleine Spuren im Sand

Sie krauchen bei 65 Grad stundenlang durch den Sand und graben Spinnen aus, sie melken den Nebel und gehen abends auf Dünen surfen: Wie Studenten 9000 Kilometer von Deutschland entfernt die Wüste meistern - eine Reportage über Forscherehrgeiz und Einsamkeit in der Dürre Namibias.
Von Sebastian Poliwoda

Mitten in der Wüste Namib stecken vierhundert hellgrüne Plastiklöffel im Sand: die Hausschilder der hiesigen Bewohner. Sie heißen A13, N5 oder P8. Und sind allesamt Spinnen.

Sie leben in einem bunten Ambiente. Wie die Farben der Nationalflagge Namibias ziehen sich rote Sanddünen, das grüne Bett des ausgetrockneten Kuisebflusses und gleißend gelbe Geröllfelder durch die Namib. Mittendrin liegt Gobabeb, die weltweit einzige Wüstenforschungsstation mit Ganzjahresbetrieb. Spinnen-, Schlangen- und Skorpionforscher, aber auch Geologen finden optimale Voraussetzungen inmitten der "Linearoase", wie die Landschaft wissenschaftlich heißt.

Einmal im Jahr, wenn überhaupt, führt der Kuiseb Wasser - genug, um den Rest der Zeit Kameldorn- und Ana-Bäume, Sträucher und Nara-Melonen wachsen zu lassen. Darin wohnen vor allem rund 35 Spinnenarten, außerdem Speikobras, Sandvipern und mehrere Arten von Skorpionen, vom kleinen gelben Androctonus bis zum dunkelroten Parabuthus in der Größe eines Babyhummers.

Mit Klappspaten, Kamera und Kompass zur Arbeit

Jeden Morgen in der ältesten und zweitgrößten Wüste der Welt steht Klaus Birkhofer, 28, um sechs Uhr auf. Schaut aus dem Fenster, cremt sich mit Lichtschutzfaktor 30 ein, packt Präparierbesteck, Löffeltüte und Hüftgurt (mit Maßband, Kompass, MP-3-Player), schultert den Rucksack und Klappspaten, Spinnenbehälter und Kamera. Dann krabbelt er bis zu fünf Stunden durch den Wüstensand.

Der Biologe von der Universität Darmstadt schreibt seine Diplomarbeit über die "Dancing White Lady Spider", deren "Populationszusammensetzung, Geschlechterverhältnis und Territorialverhalten". Die "Leucorchestris arenicola" gibt es nur in der Namib: handtellergroß, wachsfarben bis perlweiß, nur am Körper behaart. Giftig.

Elf Jungwissenschaftler leben im Schnitt ein halbes Jahr in der Station, darunter auch Thomas Noergaard, 31, aus Dänemark, der ebenfalls über die White-Lady Spider promoviert, und Sonja Ivanec, 28, von der Uni Frankfurt. Die Sozialgeografin untersucht die Landnutzungs- und Verfügungsrechte der Nara-Melone.

Spinnenwohnung mit U-Boot-Ausguck

Es ist Paarungszeit, jetzt sind die Spinnen besonders aktiv. Am Morgen muss Birkhofer ihre nächtlichen Bahnen auslesen, da fällt das Licht seitlich in die Spuren und macht sie leichter erkennbar. Zudem hat der Wind noch nicht die Ereignisse der Nacht verweht. 300 Bauten hat Birkhofer entwickelt und mit den grünen Babynahrungslöffeln abgesteckt. "Ein perfekter Track."

Die Spinnen wohnen in festen Sandröhren, innen mit Spinnenseide ausgeklebt, was ihnen Stabilität verleiht. Verschlossen ist die Wohnung mit einem markstückgroßen Deckel, den die Spinne wie einen U-Boot-Ausguck auf- und zuklappt. Birkhofer hat in bestimmten Abständen von den Bauten Käfer an kleinen Angeln ausgehängt, um zu messen, wie weit die Spinne sich für die Jagd vom Bau entfernt. 600 Meter war die weiteste Wanderung in einer Nacht. Auf ihren Ausflügen führen die Spinnen eine Art Tanz auf, trommeln mit den Beinen auf der Stelle und signalisieren damit möglichen Partnern ihren Paarungswillen.

Auf allen Vieren robbt der Jungforscher Stunde um Stunde durch die sandige Einsamkeit, bei bis zu 65 Grad in der Sonne und mit der Sorgfalt eines Minensuchers. Von Bau zu Bau. Liest Spinnenspuren aus, vermisst, trägt ein, schaut in die Bauten, kontrolliert Deckel und Köder, gräbt einzelne Spinnen aus.

Nebel fangen in der Wüste

Die werden nach der Arbeit im Labor wieder ausgesetzt. Behutsam und voller Hingabe behandelt Birkhofer sie, sanfter als eine Henne ihre Küken. Die White-Lady ist für ihn nicht irgendeine giftige Spinne, sondern Schutzbefohlene, Subjekt der Forscherbegierde. Und irgendwie auch Verbündete, hier draußen, in der Hitze, Dürre und Einsamkeit. Aber Birkhofer hat ein Problem. Jede Woche verliert er durch umhertrampelnde wilde Esel sieben bis acht Bauten. "Vor denen habe ich mehr Respekt als vor allen Spinnen und Schlangen."

Unterdessen hat sich Markus Oetjens, 31, mit einem klapprigen Opel zu seinem Arbeitsplatz aufgemacht: Inselberge, die fünfzig Kilometer von Gobabeb entfernt aus der Wüstenei aufragen. Oetjens, Geologe von der Uni Hannover, ist der Regenmacher und Nebelmelker der Station. Inmitten der Ödnis hat er schwarze Netze auf Stelzen installiert. Sie fangen den Nebel auf, der frühmorgens vom Meer herüberzieht. Die Tropfen bleiben in den Netzen hängen, fließen ab und laufen über eine Rinne in einen Kanister. "An guten Nebeltagen kriege ich drei Liter pro Quadratmeter."

"Das sind doch meine Babys" - wie Birkhofer aus Versehen Jungspinnen beerdigt und wie die Jungforscher in einer Art Wüsten-Slum leben

Lesen Sie im zweiten Teil:

Oetjens untersucht die Ökologie der Inselberge, ihre Nebelhäufigkeit, Nebelmenge und Wasserabflusssysteme. Sein Projekt dient der Erforschung der Desertifikation: warum Wüsten entstehen, wachsen und wie darin noch Leben möglich ist - eines der Hauptprojekte in Gobabeb. Hier regnet es durchschnittlich etwas über einen Zentimeter. Pro Jahr.

Noch vor kurzem musste Oetjens zweimal pro Woche mit dem Fahrrad die insgesamt hundert Kilometer über Schotterpisten schwitzen. Das machte Oetjens, der das letzte Mal vor sieben Jahren beim Friseur war, aber nicht wirklich etwas aus: "War nicht so schön, aber passt schon", sagt er und zieht seinen Hut in die Stirn.

Manches ist nur durch Forscherehrgeiz zu erklären, etwa die Studienarbeit von Cameron Grieves: Jeden einzelnen Baum im Flussbett erfasst der 26-jährige Geograf aus London, vermisst ihn, trägt ihn auf einer Karte ein, bestimmt Alter und Sorte. Dann stanzt er Schilder aus Messing, für jeden Baum eines, mit Ort, Art und GPS-Bestimmung. Tree-Mapping nennt sich das.

Birkhofer gräbt den Anwohner von Bau G3 aus. Seine Nachbarn, A1, N3 und N4, dürfen wohnen bleiben. Mit langen Armzügen, wie ein Delphinschwimmer beim Trockentraining, schaufelt Birkhofer vorsichtig den Sand hinter sich. 40, 50 Mal. Immer entlang der Spinnenröhre, bis sie schließlich komplett vom Sand befreit ist. Der kniffligste Moment: Birkhofer gräbt mit äußerster Sorgfalt am hinteren Ende der Röhre. Sieben Schwimmzüge später stürzt die Wand ein. Die Spinne springt heraus und bleibt lichtstarr sitzen. In vorsichtiger Eile stülpt er eine Plastikschachtel, die gestern noch Kirschtomaten aufbewahrte, über die Geblendete.

Ein Grab im Sand

"Alle Spinnen sind giftig", sagt Birkhofer, "nur kommen viele mit ihren Zangen nicht durch die menschliche Haut." 30 bis 40 Eier brütet die White Lady und klebt sie in Paketen an die Innenseite ihrer Wohnhöhle. Gebissen wurde er bislang noch von keiner.

Doch Birkhofer hat einen Fehler gemacht. Entgegen seiner Recherchen hat die Spinne Junge. Die meisten von ihnen werden von den nach und nach einstürzenden Höhlenwänden begraben. Birkhofer ist sauer. "Das sind doch meine Babys", ruft er verzweifelt. Nur acht Junge kann er retten. Der Tag ist für ihn restlos gelaufen.

Aber bald darauf lächelt der Diplomand wieder selig: "Oh, neue Spur. "Da war einer hochfrequent am Trommeln." Dreißig einsame Minuten später. "Oh, Menschenspur. Mensch? Von mir ist es nicht. Von wem dann?"

Dachorganisationen der Station, seit über 40 Jahren besteht, sind das namibische Uwelt- und Tourismusministerium und die Stiftung für Wüsenforschung. Mit rund einer halben Million Euro pro Jahr fördert auch die deutsche GTZ Gobabeb, vor allem durch Baumaßnahmen. Der unauffällige Flachbau mit Labors und Arbeitsräumen beherbergt die spezialisierteste Bibliothek zu ariden Gebieten weltweit.

Surfen zum Chill-Out

Gut 200 Euro zahlen die jungen Forscher pro Monat für Aufenthalt und Unterkunft. Die Wohnsituation pendelt zwischen Not und Elend. Es gibt gemauerte Vierer-Wohncontainer mit Gefängnisbetten. Oder die "Slums": sieben verrottete Wohnwägen, quer in der Landschaft. Hier darf man allein wohnen. Die Blechkisten haben den Nachteil, tagsüber brüllend heiß und in der Wüstennacht saukalt zu sein. Die Forscher finanzieren sich die Zeit in Gobabeb mit Stipendien des DAAD und Gespartem.

In seinem Arbeitszimmer, das er sich mit einem Kollegen teilt, hält Birkhofer in Sandeimern andere Arachnoiden. Eine Walzenspinne etwa, "'ne echte Fressmaschine", oder die sechsäugige Krabbenspinne, "die ist letal".

Gobabeb, Big Brother für Wüstenforscher. Nur einmal im Monat kommen sie raus. Dann ist Supply-Trip ins 120 Kilometer entfernte Walvis Bay. Einkaufen für Selbstversorger. Raus aus dem Wüstenghetto, rein in die Zivilisation. "Unser einziges Fenster zur Welt", sagt Birkhofer. Schon zwei Wochen vor dem nächsten Trip, wenn die Vorräte langsam zur Neige gehen und die Menüvariation von Nudeln mit Soße bis zu Soße mit Nudeln reicht, träumen die Wissenschaftler davon, was sie alles essen werden in dem Cafe in Walvis Bay. Bier ist seit zwei Tagen aus, Wein seit gestern. Bedeutet für die kommenden zwei Wochen: das brackig schmeckende Wasser aus der Leitung trinken.

Zum abendlichen Chill-Out gehen die Jungforscher surfen. Mit Pressholzbrettern geht es dann die Voralpenlandschaft der bis zu 300 Meter hohen Dünen hinab. Die Schanzen laufen abrupt aus, weswegen eine Steißprellung hier zur Forscherehre gehört.

Wenn um 22.30 Uhr der Generator und damit jegliches Licht ausgeht, beginnt das allabendliche Sternenkino. Oder die Forscher marschieren mit einem Schwarzlicht wie in der Disco in den Busch und beleuchten die Skorpione. Wie reflektierende Weingummis kleben sie an den Bäumen. Ein beschaulicher Anblick.

Und in der Ferne schimmern grüne Plastiklöffel im Mondlicht.

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