Bildungsstreik "Die Studierenden wollen keinen neuen Rudi Dutschke"
SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Grottian, Schüler und Studenten haben zum Streik aufgerufen. Was hat ein alter Professor wie Sie damit zu schaffen?
Grottian: Ein alter Professor wie ich ist immer noch an Bildungspolitik interessiert, ich lehre und prüfe ja auch nach meiner Emeritierung noch, und die Zustände an den Hochschulen fordern einfach zum Protest heraus. Ich habe die Vorbereitungen seit September 2008 begleitet und hier und da einen Rat gegeben.
SPIEGEL ONLINE: Brauchen die heutigen Studenten Nachhilfe von einem streikerfahrenen Aktivisten wie Ihnen?
Grottian: Die Studierenden brauchen nicht unbedingt einen Hochschullehrer wie mich, aber es zeichnet diese Generation aus, dass sie Leute wie mich akzeptiert. Es ist überhaupt eine Besonderheit dieses Streiks, dass die Studenten niemanden ausschließen. Sie bleiben nicht unter sich, sondern protestieren gemeinsam mit den Schülern und beziehen Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen ein.
SPIEGEL ONLINE: Die Schüler und Studenten wollen in mehr als 100 Städten streiken. Kann solch eine flächendeckende Aktion funktionieren?
Grottian: Diese Studentengeneration ist in einer Hinsicht extrem sensibel: Sie will keine Machtballungen, sondern hat sich sehr bewusst für eine dezentrale Organisation des Streiks entschieden. Die Studierenden wollen keinen neuen Rudi Dutschke oder keine neue Lora Dutschke. Sie wollen einen Streik der vielen Gesichter - und nicht einen Obermacker, Oberaktivisten oder Oberstrategen.
SPIEGEL ONLINE: Und worum geht es?
Grottian: Der Streik wendet sich gegen Missstände des gesamten Bildungssystems, etwa die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen, die Ökonomisierung der Bildung und fordert die Abschaffung von Bachelor und Master in der bisherigen Form. Ein wahres Kontrastprogramm zur offiziellen Bildungspolitik also, die sich in milliardenschweren Konjunktur- und Bund-Länder-Programmen ergeht und nur die Forschungselite und die bauliche Infrastruktur von Bildungseinrichtungen bedient, ohne die konkrete Schul- und Studiensituation zu verbessern. Es verbessert sich doch nichts, aber auch gar nichts, wenn man nur das Austauschen von Kloschüsseln bezahlt, aber nichts für das Lernen von Mensch zu Mensch macht.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass die Schüler und Studenten massenweise auf die Straße gehen?
Grottian: Das ist die große Frage. Die Ausgangslage ist gut: Die Unzufriedenheit an den Universitäten ist sehr groß. Viele Studenten haben gemerkt, dass die Universität nur noch ein Hamsterrad ist, in dem sie von Klausur zu Klausur, von Test zu Test hetzen. Aber man soll schon auch ehrlich sein und sagen: Es gibt sowohl bei den Schülern als auch bei den Studierenden interne Mobilisierungsprobleme. Die Formen der Basismobilisierung - das klappt unzureichend. Dass man zum Beispiel Professoren bittet, in ihren Lehrveranstaltungen eine halbe Stunde lang über den Streik zu reden, das wird zu selten gemacht, obwohl sicherlich die Hälfte der Hochschullehrer sehr kritisch zu den Bachelor/Master-Programmen steht.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Grottian: Es gibt sicherlich auch eine Angst vor der Niederlage. Dass die Kommilitonen sagen: Geht doch raus, wir machen mit dem Stoff weiter. Die Forderungen in diesem Streik sind ja sehr weitgehend, das ist sehr positiv, aber die Durchschnittsstudierenden haben doch häufig eine sehr pragmatische Lebensperspektive. Deshalb ist es schwer, sie zu gewinnen. Das hängt damit zusammen, dass die Studierenden und die Schüler so eingezwängt sind in ihre Leistungssysteme. In ihrem täglichen Überlebenskampf haben sie den Kopf nicht mehr frei und sagen vielleicht: So ein Streik ist ja nett, aber ich muss jetzt dringend für die nächste Klausur lernen. Viele können sich gar nicht vorstellen, dass Lernen und Bildung anders sein könnten, da fehlt jede Imagination und Utopie.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen die Streikenden denn diese Imagination wecken?
Grottian: Bei den Vorbereitungen gab es viele Diskussionen über die richtigen Protestformen. Eher normale Formen wie eine Demonstration oder auch Akte des zivilen Ungehorsams? Nun wird es beides geben, neben den Demonstrationen etwa einen fiktiven Banküberfall. Die Überzeugung wurde immer wieder vorgetragen, auch von den Schülern: Ein lieber Streik darf es nicht sein. Gerade beim Streik am Freitag kommt es darauf an, dass die Studierenden einen Konflikt mit der Kultusministerkonferenz auch austragen. Wenn die Kultusminister das von den Studierenden geforderte zweistündige Gespräch ablehnen, könnte es zu einer Umzingelungsaktion kommen. Ein bisschen Zunder muss eben schon sein.