
Raus aus der Favela: Doktor statt Drogenboss
Aufwachsen in Rio Raus aus der Favela
Unten rasen Motorradtaxis auf der steilen Straße entlang, vor der Terrasse wachsen die Ziegelhütten von Rio de Janeiros größter Favela Rocinha den Berg hinauf. Michel Silva tippt konzentriert in sein Macbook. Seine Mutter blickt ihm dabei über die Schulter, einen Computer hat sie noch nie benutzt: "Ich gehe lieber in die Kirche", sagt Dona Jô.
Die 63-Jährige kann kaum schreiben und lesen, ist nur ein paar Jahre zur Schule gegangen. Sie hat ihr Leben lang für wenig Geld geschuftet. Für Favelabewohner gab es bisher kaum Aufstiegschancen - doch ihre Kinder haben andere Pläne.
Die Geschichte von Dona Jô und ihren drei Kindern ist auch die Geschichte eines krisengeschüttelten Landes im Umbruch, in dem immer mehr Favelakinder nicht mehr als billige Arbeitskräfte für die Wohlhabenden arbeiten wollen - und stattdessen von Universität und Karriere träumen. Sie nehmen die tiefe Spaltung des Landes in Arm und Reich nicht mehr einfach hin.
Michel, 22, studiert Journalismus, Monique, 25, arbeitet nach ihrem Wirtschaftsstudium in der Modebranche, die 27-jährige Michele hat Marketing studiert und ist bei einem amerikanischen Tech-Start-Up angestellt. "Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, Hausmädchen zu werden", sagt Michele. "Unsere Eltern haben uns motiviert, viel zu lernen, damit wir eine Arbeit und eine bessere Zukunft haben als sie."
Mutter Dona Jô war mit 22 aus dem Nordosten Brasiliens nach Rio gezogen, um sich eine Arbeit zu suchen - und landete in der Favela Rocinha, einer improvisierten Siedlung auf einem Berghang in der heute 120.000 Menschen leben. Sie lebte anfangs in einer Baracke, musste Wasser den Berg hochschleppen, auch Strom gab es nicht. Erst putzten sie und ihr Mann, dann fand sie eine Anstellung als "Empregada", als Hausmädchen.

Michel Jô will Journalist werden.
Foto: Sonja PeteranderlBrasilien hat weltweit die meisten Hausmädchen, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge mehr als sieben Millionen: ein Relikt der Kolonialzeit, als afrobrasilianische Hausmädchen die Häuser der weißen Elite führten, oft bei der Familie lebten, und deren Kinder großzogen - auf Kosten der eigenen Kinder.
Viele verstecken ihre Favela-Herkunft
Dona Jô ist stolz auf ihre Kinder, welche Fächer sie studiert haben, fällt ihr aber spontan nicht ein. "Unsere Mutter hat so viel für die andere Familie gearbeitet, dass sie nicht weiß, was wir eigentlich machen", sagt Michele. Ihre Mutter weiß dafür, was die Töchter ihrer Chefin studiert haben - weil sie mehr Zeit mit ihnen verbracht hat.
Die Ältere ist so alt wie Michele, hat wie der Bruder Michel an der PUC studiert, geht in die gleichen Clubs wie die Favela-Kinder, die ihre abgelegten Kleider aufgetragen haben. Es gibt viele Berührungspunkte, getroffen haben sich die Kinder nie. Die Kluft zwischen den Lebenswelten ist zu groß.
Aufsteiger aus der Favela spüren, wie rassistisch und elitär Brasilien noch immer ist. "Die meisten Studenten an meiner Fakultät kommen aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht", sagt Michel. "Schwarz ist fast niemand." Einige reiche Studenten fänden es "cool", auf einem Baile Funk, einer Favela-Party, zu tanzen oder kaufen in Favelas ihre Drogen ein - den Alltag kennen sie nicht.
Michele ärgert sich über Gespräche voller Vorurteile: "Meine Freunde geben sich Mühe, wenn ich in der Nähe bin, nicht schlecht von Favela-Bewohnern zu sprechen, dass alle Diebe und Drogendealer seien." Ihre Favela-Herkunft will sie trotzdem nicht verstecken - anders als ihre Schwester Monique, die es bei Vorstellungsgesprächen und bei Arbeitskollegen verschweigt. Es ist ein Doppelleben, das viele leben, aber das die Wahrnehmung verzerrt - innerhalb und außerhalb der Favela.
"In der Favela denken die Leute, wenn du aus einer armen Familie kommst, hast du sowie keine Chance - aber das ist nicht wahr", sagt Michele. Die Geschwister konnten mit einem Stipendium das Centro de Educacional de Lagos (CEL) besuchen, eine Pionierschule, an der 90 Schüler aus Favelas kostenlos lernen konnten - um herauszufinden, wie sehr eine gute Bildung ein Leben beeinflusst. "Ziel war, dass alle Schüler an die Uni gehen, die Mehrheit hat das geschafft", sagt Michel.
Heute gebe es genug Stipendien. Selbst wenn die Ausbildung an vielen Schulen und Universitäten schlecht sei, erleichtere etwa das Internet den Zugang zu Wissen.
Vorbild Drogenboss
Die größte Barriere ist, dass viele Familien nicht um den Wert von Bildung wissen - oder darauf angewiesen sind, dass die Kinder schnell einen Beruf erlernen. "Wenn du als Kind in einer Favela geboren wirst, wird mit Sicherheit niemand dieses Baby ansehen und denken, dass es ein Doktor werden wird - wenn du selbst nicht daran glaubst, dass du es schaffen kannst, dann wird es auch nichts", sagt Michele. "In der Favela gehen die Kinder zur Schule, weil die Eltern arbeiten müssen, nicht, damit sie mal studieren können."

Dona Jô (M.) hat mehr Zeit mit den Kindern ihrer Arbeitgeber verbracht als mit den eigenen.
Foto: Sonja PeteranderlViele ihrer Freunde und Bekannten haben mit 12 oder 13 Jahren die Schule abgebrochen, weil sie sich eine Arbeit suchen mussten, zum Lebensunterhalt der Familie beitragen mussten. So sind die Drogengangster, die in den Favelas herrschen, vor allem für junge Männer immer noch das greifbarere Vorbild. Viele frühere Freunde und Bekannte der Geschwister sind abgerutscht, arbeiten heute für die Drogengang der Rocinha - oder haben ihr Leben als Jugendliche verloren.
Eine Zeitlang hatten die Mutter und die Schwestern Angst, dass auch Michel eine kriminelle Karriere einschlagen würde. Weil er wegen einer Fehlbildung des Gaumens nicht so deutlich sprechen kann und sich in der Schule ausgeschlossen fühlte, trieb er sich herum, verbrachte die Tage am Strand statt in der Schule. "Es lohnt sich nicht", sagt Michel heute. "Studieren ist besser als ein falsches Leben."
Die Geschwister wollen Vorbilder sein, Impulse setzen, auch wenn sie wissen, dass sie nicht die Welt verändern können. Ihre Mutter hat noch nie das Land verlassen, Michel wurde als Favela-Reporter nach Kolumbien und in die USA zu Konferenzen eingeladen, Michele hat durch ihre Arbeit Mexiko und die USA kennengelernt. Sie können sich vorstellen, aus der Rocinha wegzuziehen - wollen sich aber weiter für die Favela engagieren.
"Ich glaube, dass jeder es verdient, an einem Ort zu leben, an dem er keine Angst haben muss zu sterben, Freunde nach Hause zu bringen, ein Gewehr ins Gesicht gehalten zu bekommen oder in Hundehaufen zu treten", sagt Michele. "Ich möchte an einem besseren Ort leben, aber hier mit Projekten weiter Informationen verbreiten, um den Menschen zu einem besseren Lebensstandard zu verhelfen - so wie sich mein Leben durch den Zugang zu Information und Bildung verbessert hat."