Clash der Kulturen Jungakademiker erobern Problemviertel
Die Fahrt mit der S-Bahn über die Elbe dauert nur sechs Minuten. Doch wer vom Hamburger Hauptbahnhof kommt und an der Haltestelle "Veddel" aussteigt, der hat die eine Welt verlassen und die andere erreicht.
Es ist eine Welt der Abgehängten, Bedürftigen und Fremden; versteckt hinter Hafenkränen, Bahngleisen und Containerterminals, eingezwängt zwischen Fluss und Schnellstraße. Die Veddel ist ein Stadtteil mit grassierender Armut und überdurchschnittlicher Kriminalitätsrate. Etwa 5000 Menschen wohnen hier in wuchtigen roten Backsteinbunkern. Fast 70 Prozent von ihnen sind Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund, jeder Dritte lebt von Hartz IV.
Und seit kurzem gehören zu der bunten, manchmal explosiven Mischung in dem Hamburger Stadtteil auch rund 400 Studenten.
Denn die Veddel liegt zu nahe an der Innenstadt, als dass die Stadtplaner im Rathaus sie als Ghetto abschreiben wollten. Sie setzen deshalb auf Menschen mit Ideen und guter Sozialprognose, auf Kreative, die den Stadtteil gestalten und im besten Fall Kneipiers und Geschäftsleute anlocken. Auf angehende Akademiker zum Beispiel.
Die Pioniere werden mit einem einzigartigen Programm gelockt: Wer sich traut, mitten hineinzuziehen in das Problemviertel, der darf nun gegen Vorlage einer Immatrikulationsbescheinigung auf ein subventioniertes WG-Zimmer für freundliche 178 Euro pro Monat hoffen. "Studenten", sagt Hamburgs Stadtentwicklungssenator Axel Gedaschko, "sind die idealen Partner." Partner ist in diesem Zusammenhang ein seltsames Wort. Wahrscheinlich meint er Agenten, will das aber so nicht sagen.
Das Viertel war für Studenten Terra incognita
Das Experiment, das die Bevölkerungsstruktur verändern soll, begann vor gut drei Jahren und läuft in Kooperation mit der Wohnungsgesellschaft SAGA GWG, dem größten Vermieter auf der Insel, der immer wieder Leerstände zu beklagen hatte. Zur Vorhut, die auf die Veddel zog, gehört unter anderem Martin Drechsler, 27, Student der Sozialpädagogik. "Anfangs wusste ich so gut wie nichts über das Viertel", erinnert er sich. Die Veddel war für Drechsler genau dasselbe wie für die meisten anderen Hamburger: Terra incognita.
Drechsler kam auf die Insel, weil man ihm billigen Wohnraum in Zentrumsnähe anbot, und das war ein verdammt gutes Argument in dieser begehrten Stadt, in der die Mieten die sechsthöchsten in Deutschland sind. Es störte ihn daher nicht so sehr, dass er plötzlich selbst zum Migranten geworden war, zum Eindringling in die Welt der verschleierten Frauen, bärtigen Turbanträger und wütenden Halbstarken, die auf Großstadt-Gangster machen. Drechsler wurde kritisch beäugt, wenn er durchs Viertel lief oder in der Eisdiele auf Hochdeutsch Kaffee bestellte. Manche Blicke konnten nur eines bedeuten: "Hau hier ab!"
Der Student war froh, als er Gleichgesinnte fand: junge Frauen und Männer, die das Unbekannte als Herausforderung sehen. "Auf der Veddel", sagt Drechsler, "kann man noch etwas verändern."
Das könnte auch Stadtentwicklungssenator Gedaschko so sagen. Nur dass sich die Ziele des Politikers und die Ziele des Studenten erheblich unterscheiden: Der eine will einem Problemviertel ein etwas freundlicheres Antlitz geben. Der andere will sich selbst verwirklichen und dabei auch moralischen Mehrwert ernten. Die Frage ist, wer hier wen für seine Ziele einspannt.
Mit Schippe und Harke halfen Jugendliche mit
Eine klare Antwort gibt es darauf nicht. Als im Sommer 2005 wegen der drohenden Studiengebühren gestreikt wurde, machten Drechsler und die anderen genau das, was sich die Erfinder des Projekts erhofft hatten: Sie gestalteten nicht nur ihre WG-Zimmer um, sondern auch das Viertel. Die Studenten suchten ein Hauptquartier, in dem sie ihre Protestaktionen planen und ihre Kommilitonen informieren konnten. Die SAGA GWG überließ ihnen eine alte, vollverflieste Fleischerei, in der es kein funktionierendes Klo und keine Wasserversorgung gab.
Das Team bastelte und improvisierte, trug gebrauchte Sofas ins Hauptquartier und kooperierte mit dem türkischen Grill von gegenüber: Als gute Kunden dürfe man doch sicher ab und zu mal die Toilette benutzen, oder? Das Hauptquartier, das mittlerweile fließend Wasser hat, überdauerte den Streik. Es wurde zum Café Unmut, das ein kleines bisschen so aussieht wie eine Kreuzberger Kneipe im Retro-Look.
Das Café gilt den Stadtplanern nun als Sinnbild für das, was sich zukünftig tun soll im Viertel. Die Studenten sitzen dort fast jeden Abend im Halbdunkeln, trinken Cola und Astra für einen Euro und reden auch darüber, was sie als Nächstes anstellen können im Viertel.
Das Team organisierte schon ein Literaturprojekt mit dem Namen "Poesie der Straße": Plötzlich hingen 13 Banner mit Gedichten an den Hausfassaden. Im Frühling wurde zum Blümchenpflanzen geladen, um die tristen Straßen aufzuhübschen. Etliche türkische und albanische Jugendliche rückten mit Schippe und Harke an, um mitzuhelfen. "Es war erstaunlich", sagt Martin.
Zwei Welten, die einander bisher fremd waren, wuchsen ganz langsam aufeinander zu. Jetzt kommen die jungen Ausländer regelmäßig zum Kickern ins Unmut oder lassen sich von den Studenten Nachhilfeunterricht erteilen. "Das ist Integrationspolitik, die wir hier machen", sagt Informatikstudent Iwer Petersen, 27, "nichts anderes."
Der Soziologe spricht von "Gentrifizierung"
Eine Tapas-Bar eröffnete, ein Stadtteilkünstler zog zu, ein Theaterprojekt erfreut sich auch bei vielen Muslimen großer Beliebtheit.
Das alles erinnert daran, dass andernorts schon funktionierte, was die Stadt nun vorhat mit der Veddel. Es waren in erster Linie die Studenten, die das Hamburger Schanzenviertel oder Berlins Friedrichshain zu den begehrten Stadtteilen machten, die sie heute sind. Sie waren die kreative und kommunikative Vorhut, in deren Schlepptau die Garde der Gutverdiener kam. Ein Effekt, den Soziologen als "Gentrifizierung" bezeichnen: Veredelung.
So preist die Wohnungsbaugesellschaft die Veddel schon jetzt als Szeneviertel an, was angesichts der Realität seltsam anmutet. Die letzte Bankfiliale hat vor einiger Zeit geschlossen; ein einziger Penny-Markt versorgt sämtliche Bewohner; Schuhe und Klamotten muss man andernorts kaufen. Zum Feiern und Tanzen fahren die Studenten rüber auf die andere Seite der Stadt. Das alles ist nicht hip und szenig, sondern dörflich und lästig.
Soziologiestudentin Ute Ludwig, 24, sitzt in der Küche einer Sechser-WG, die Kaffeemaschine brodelt, es stehen sechs Tassen mit unterschiedlichem Dekor auf dem Tisch. Wer Ute fragt, was sie denkt über das Viertel, der erfährt, dass da "zwei Herzen in der Brust" schlagen. Einerseits verteidigt sie das Viertel immer; sie mag es, dass hier "noch nicht alles so aufgestylt" ist. Ganz bewusst ist sie aus Hamburgs In-Viertel Eimsbüttel weggezogen: "Die, die da wohnen, wollen alle links und hip sein", sagt sie, "die sind aber in Wirklichkeit total materiell eingestellt und durch und durch spießig."
"In-Viertel" heißt: Arme und Ausländer sind out
Andererseits fürchtet sich Ute aber auf der Veddel jedes Mal, wenn sie im Dunkeln allein unterwegs ist. Wenn sie spätabends aus der S-Bahn steigt und den düsteren Vorplatz überquert, dann sehnt sie sich zurück nach Eimsbüttel oder Winterhude, jenen aufgeräumten Stadtteilen. Es gibt etliche Jugendliche im Viertel, die wenig Perspektiven und noch weniger Skrupel haben; selbsternannte Ghetto-Kids, die Ute immer mal wieder bedrängen oder ihr "Scheiß Studentin" hinterherrufen. Als im Viertel bekannt wurde, dass die Studenten mit subventionierten Mieten angelockt werden, tat das der Stimmung nicht gerade gut. Zumal die SAGA GWG vielen alten Mietern im gleichen Atemzug die Mieten um 15 Prozent erhöhte. Die Veddeler Ureinwohner fühlten sich plötzlich auch im eigenen Viertel als Bürger zweiter Klasse.
Auf lange Sicht ist Gentrifizierung immer ein Prozess, bei dem eine Gruppe verliert und die andere gewinnt. Wenn ein Viertel erst einmal mit Clubs, Styleshops, Literaturcafés und Galerien versorgt ist, kommen die Besserverdienenden; Menschen, die bereit sind, viel Geld dafür zu bezahlen, ihre hippen Designermöbel auch im gerade hippsten Viertel der Stadt ausstellen zu können.
Die Mieten steigen, die angestammte Klientel kann sich das Leben im Viertel nicht mehr leisten. Erst kürzlich haben mehrere Hamburger Stadtteilinitiativen die Folgen der Gentrifizierung beklagt: Die Politik müsse endlich dafür sorgen, dass die zentrumsnahen Viertel nicht alle zu teuren "Latte macchiato"-Kiezen mutierten. Der Ruf verhallte ungehört.
Als vermeldet wurde, dass der Migrantenanteil wegen des studentischen Zuzugs gesunken sei, bezeichnete die CDU die Elbinsel als neues "In-Viertel". Eine krude Logik, nach der in ist, wo Ausländer und Arme out sind.
"Erst einmal was auf die Fresse bekommen"
Doch die Strategie soll auch andernorts greifen. Weil am Elbufer gerade die glamouröse Hafen City aus dem Boden gestampft wird, rückt nicht nur die Veddel, sondern auch Wilhelmsburg immer weiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit - ein Stadtteil mit schlechtem Ruf, der bundesweit im Jahr 2000 von sich reden machte, als zwei Kampfhunde einen kleinen Jungen totbissen.
Auch dorthin wurden schon 170 Studenten gelockt, die nun 178 Euro Miete bezahlen. Der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann ist sich sicher, dass die angestrebte Gentrifizierung funktionieren wird: Wilhelmsburg werde von den Kreativen umgestaltet, auf den Kopf gestellt, eingenommen, glaubt der Wissenschaftler.
Die Studenten von der Veddel und aus Wilhelmsburg sind insofern Teil eines Renovierungsprogramms. Sie wurden angesiedelt, um Farbe ins Viertel zu bringen, einen anderen Lebensstil. Sie sollen die Tore aufmachen für solventere, moderne, urbane Mieter, die Geld und Stil ins Viertel bringen. Sie sollen helfen, die Gewinner anzulocken, damit die Verlierer nicht mehr so auffallen im Stadtviertel.
Die Pioniere sehen die gewollte soziale Reibung - und bekommen häufig die negativen Folgen zu spüren. Paul Harmsen, Student der Ingenieurwissenschaften, zog vor einem Jahr auf die Veddel und bekam zur Begrüßung von einigen Kids "erst einmal etwas auf die Fresse - grundlos". Dass er bleiben will, habe nichts mit dem Viertel zu tun. Es ist die WG, die ihn an die Veddel bindet.
Auch seine Mitbewohnerin Katrin Schmid, 23, Studentin der Stadtplanung, ist skeptisch. "Es muss doch komisch sein für die alten Mieter hier, wenn man Studenten schickt, um ihnen zu zeigen, wie man richtig lebt", sagt sie.