Deutschkurse für Fünfjährige "Morgen Kinder gehen Wald"

In Hessen lernen Ausländerkinder an der Grundschule Deutsch - und zwar schon vor ihrer Einschulung. Nach einem Jahr ist die Bilanz erfreulich: Die Fünfjährigen werden auf die erste Klasse gut vorbereitet. Berlin will im kommenden Jahr nachziehen.
Von Andreas Ross

"Wer will denn mal die Tafel aufklappen und nachschauen, was dort versteckt ist?" Alle Kinder melden sich stürmisch. "Ich, ich." Lehrerin Stefanie Weber nimmt Ali dran. Der Fünfjährige rennt zur Tafel - und bleibt verwirrt stehen. Da ist nichts. "Du musst die Tafel aufklappen", wiederholt die Lehrerin, doch Ali versteht sie nicht. "Tafel", das Wort kennt er schon. Aber was bedeutet "aufklappen"? Auch seine sechs Mitschüler gucken ratlos.

Die Kinder besuchen den ersten Deutschkurs für Vorschüler an der Frankfurter Riedhofschule, jeden Morgen von acht bis halb zehn. Nach dem Pisa-Schock hatte Hessen im vergangenen Herbst als erstes Bundesland diese Vorlaufkurse eingeführt. Statt im Frühjahr des Einschulungsjahres muss Schulleiterin Margot Weidmann jetzt schon im September des Vorjahres mit dem Kind und seinen Eltern sprechen. Sie soll herausfinden, wie gut der künftige Schüler die deutsche Sprache beherrscht.

"Die ganze Klasse fährt mit angezogener Handbremse"

Um perfekten Satzbau und Grammatik geht es dabei nicht. Entscheidend ist, ob das Kind einfache Anweisungen versteht. "Bring mir bitte mal die Dose vom Tisch." Kann ein Fünfjähriger diese Bitte nicht verstehen, dann wird er ohne Sprachtraining auch ein Jahr später in der ersten Klasse nicht weit kommen. Weidmann kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. "Wenn du in einem ersten Schuljahr Kinder sitzen hast, die nicht verstehen können, dass sie jetzt ihr rotes Heft rausholen sollen, dann fährt die ganze Klasse wie mit angezogener Handbremse."

Elf Kindern riet Weidmann im September des vergangenen Jahres eindringlich zum Besuch des kostenlosen Kurses. Das Ministerium hat ihr dafür ein Druckmittel an die Hand gegeben: Entscheiden sich die Eltern gegen den Kurs, und ihr Kind spricht ein Jahr später immer noch so gut wie kein Deutsch, so kann die Schulleiterin es um ein Jahr zurückstellen. Das nunmehr schulpflichtige Kind wird dann zum Besuch des Vorlaufkurses verpflichtet. Tatsächlich wurden landesweit jetzt 155 Kinder zurückgestellt, die im vergangenen Jahr das Deutsch-Angebot nicht wahrgenommen hatten - ihre Sprachkenntnisse genügten nach wie vor nicht den bescheidenen Anforderungen.

An der Riedhofschule kam es bisher nicht so weit. "Man muss den Eltern gar nicht drohen", berichtet Schulleiterin Weidmann aus ihrer Erfahrung, "denn es wollen sowieso alle, dass aus ihren Kindern Rechtsanwälte und Ärzte werden."

Geeignete Lehrmittel sind rar

Bis das so weit ist, werden erst einmal Spiele gespielt, Lieder gesungen und Bilder gemalt. Stefanie Weber hat an der Universität nichts über das Fach Deutsch als Fremdsprache gelernt. Das ging den meisten Grundschullehrerinnen so, die plötzlich die neuen Kurse unterrichten sollten. Zudem stellten die ausgebildeten Pädagogen fest, dass der Entwicklungsstand der Fünfjährigen völlig andere Lehrmethoden verlangt als ein erstes Schuljahr. Einschlägige Fortbildungsangebote sind rar.

Für ihre täglichen zwei Stunden mit den Kindern aus türkischen, marokkanischen oder indischen Familien sucht Weber sich Anregungen im Internet: "Da findet man immer so tolle Sachen." Passende Lehrmaterialien sind für die Altersgruppe bisher kaum entwickelt worden. Die Schule hat nur ein paar große Bildposter und Wortkarten angeschafft. Hauptsache, es ergeben sich Anreize zum Sprechen: "Und jetzt sagen wir alle zusammen: 'Der Elefant hat einen Rüssel'. Und dazu klatschen wir in die Hände!"

Vor einem Jahr wandten sich vor allem Hessens Grüne und die Gewerkschaften gegen den Plan der CDU-Kultusministerin Karin Wolff. Die Kritiker sahen in den Kursen eine kontraproduktive Sonderbehandlung von Ausländerkindern - doch angesichts der hessischen Erfolgsbilanz sind die Nörgler stumm geworden. Ohnehin waren deutsche Schüler nie grundsätzlich von dem Angebot ausgenommen: 175 Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, nahmen ebenfalls an den Kursen teil.

Auch Mama lernt Deutsch

Schulleiterin Weidmann konnte die Kritik nie nachvollziehen. "Das ist doch hier ein Super-Luxus! Wer kann denn etwas dagegen haben, diese Kinder schon vor der Schule gemeinsam zu fördern?"

Das sehen Bildungspolitiker anderswo in Deutschland mittlerweile ähnlich. Als nächstes Land schickt sich offenbar Berlin an, es den Hessen nachzutun. Bildungssenator Klaus Böger kündigte im "Tagesspiegel" überraschend an, ebenfalls Pflicht-Deutschkurse vor der Einschulung einführen zu wollen - allerdings erst im nächsten Schuljahr. Vermutlich hat der sozialdemokratische Berliner sich von den Zahlen seiner hessischen Kollegin überzeugen lassen: Fast 94 Prozent der Kinder, die an dem Kurs teilgenommen haben, konnten pünktlich mit sechs Jahren ins erste Schuljahr aufgenommen werden. Von den Schülern, deren Eltern sich gegen den Kurs entschieden hatten, wurden nur 19 Prozent eingeschult.

Vor allem die Eltern freuen sich über das Angebot. An der Riedhofschule besuchen viele Mütter sogar selbst einen Kurs, denn zwei Mal pro Woche heißt es dort auch "Mama lernt Deutsch". Die wenigsten Eltern verstehen die Sprache besser als ihre kleinen Kinder. "Morgen Kinder gehen Wald", entschuldigt eine Mutter ihren Sohn für den nächsten Tag.

In Hessen waren die Schulleiter überrascht, dass sich kaum Eltern gegen den Sprachkurs sperrten. Nur etwa vier Prozent gingen auf die dringliche Empfehlung zur Teilnahme nicht ein. Vielmehr waren viele Eltern verärgert, weil ihre Kinder nicht teilnehmen sollten. Doch da war nichts zu machen: Ihr Deutsch war nicht schlecht genug.

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