
Kritik an US-Uni: Chinesischer Dissident muss NYU verlassen
Menschenrechte Dissident Chen attackiert New York University
Chen Guangcheng hat in seinem Leben schon einige Rollen spielen müssen, er war erst Staatsheld und dann Staatsfeind. Der chinesische Bauernsohn, 41, seit einem Kindheitsunfall blind, erwarb im Selbststudium Grundkenntnisse der Rechtswissenschaften, um Behinderte und junge Eltern zu beraten. Das brachte ihm landesweit Anerkennung ein. Doch als er begann, gegen Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen im Rahmen von Chinas Ein-Kind-Politik zu protestieren, stellte ihn die Kommunistische Partei unter Hausarrest und verhaftete ihn.
Im April 2012 floh Chen in die US-Botschaft nach Peking und durfte nach langen Verhandlungen mit seiner Frau und zwei Kindern ausreisen, um an der New York University (NYU) ein Stipendium anzutreten. Ausgerechnet dort droht dem "barfüßigen Anwalt" (Magazin "New Yorker") nun erneut die Rolle des Opfers.
Der Aktivist wird die Universität im schicken Greenwich Village wohl schon Ende dieser Woche verlassen müssen, und zwar der eigenen Darstellung nach keineswegs freiwillig. Auf Druck der chinesischen Führung, so behauptet Chen, habe die Hochschule sein Stipendium nicht verlängert. "Der Einfluss von Chinas Kommunisten in amerikanischen Unikreisen ist viel größer als weithin angenommen", sagt er. Daher habe die NYU bereits kurz nach seiner Ankunft mit ihm Verhandlungen über das Ende seines Aufenthalts begonnen. Warum diese Eile? Die "New York Post" suggeriert, die New York University wolle wohl ihr ehrgeiziges Projekt eines neuen Campus in Shanghai nicht gefährden.
Herzlicher Empfang für Chen
Die Hochschule bestreitet derlei Vorwürfe entschieden. Rechtsprofessor Jerome Cohen, der sich um Chen und seine Familie besonders kümmerte, sagt: "Kein politischer Flüchtling, nicht einmal Albert Einstein, ist von einer US-Universität herzlicher empfangen worden." Von Anfang an sei Chens Stipendium nur auf ein Jahr angelegt gewesen. Außerdem prüfe dieser bereits attraktive Angebote von anderen amerikanischen Hochschulen, etwa der nahe gelegenen Fordham University.
Ob Chen letztlich Belege für seine harschen Vorwürfe präsentieren kann oder nicht: Sein Fall illustriert die komplizierte Balance zwischen der aktuellen Supermacht USA und der aufstrebenden Supermacht China. Barack Obama will Amerikas erster "pazifischer Präsident" sein. Gerade hat er den neuen chinesischen Präsidenten Xi Jinping bei einem informellen Gipfel in Kalifornien umworben, das Treffen wirkte wie eine Art Paartherapie unter Palmen. Lange Gespräche über Menschenrechte sollten die Idylle ausdrücklich nicht stören - auch wenn die chinesischen Behörden in einer versöhnlichen Geste kurz vor dem Treffen dem Bruder und der Mutter von Chen überraschend Reisepässe ausstellten.
Wie wenig sich Chen vom Friedensnobelpreisträger Obama erhofft, war bereits im April zu spüren, als der SPIEGEL den Aktivisten in New York zum Interview traf. Auf die Frage, ob er enttäuscht gewesen sei, dass Obama ihn bislang nicht persönlich empfangen habe, sagte Chen: "Ach, ich habe gehört, dass Obama sich nicht traut, weil die US-Regierung den Chinesen im Gegenzug für meine Ausreise Diskretion zugesagt hat. Ursprünglich hatten die Chinesen auch versprochen, die Repressalien gegen mich zu untersuchen. Das ist natürlich nicht geschehen."
Chen ist Obamas schlechtes Gewissen
Chen klagte auch über staatliche Repressalien gegen seine Verwandten, die nach wie vor in China lebten - und betonte, die Kommunistische Partei beschatte ihn weiter: "Deren Funktionäre geben sich wenig Mühe, dies zu verbergen. Die Telefone aller Menschen, mit denen ich kommuniziere, werden abgehört."
Während seiner Zeit in New York schrieb Chen an einem Buch über seine Flucht, er hielt online Kontakt mit Weggefährten in China, er sagte: "Meine Freunde und ich wissen, dass wir um Demokratie kämpfen müssen, sie fällt nicht vom Himmel."
Dieser Kampf wird weitergehen, ob Chen Stipendiat in New York bleibt oder nicht - und er wird Obama vermutlich weiter an dessen gemischte Bilanz in Sachen Menschenrechte erinnern. Dem SPIEGEL sagte der Dissident: "Amerika will weltweit für Demokratie einstehen, aber es spricht nicht einmal direkt mit dem chinesischen Volk. Das ist falsch und töricht. Denn früher oder später wird China demokratisch werden. Und die neue Regierung dürfte sich genau erinnern, wer früher an ihrer Seite stand."