
Drogenkrieg in Mexiko: Warum musste Carlos sterben?
Drogenkrieg in Mexiko Kartelle auf dem Campus
Mariana Rivera zuckt zusammen. Der Knall hallt über Las Islas, den Paradeplatz der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). Alles steht still. Riveras Blick geht von den Bäumen zur Uni-Bibliothek, über die Architekturfakultät zum Parkplatz. Zwei Studenten stehen neben einem verrosteten Motorrad und lassen den Motor aufheulen. Der Auspuff knattert. "Nada", sagt Mariana Rivera und atmet tief aus: Nichts ist passiert. Doch ihre Fingern zittern, als sie die Tastensperre ihres Handys entriegelt.
Rivera ist 20 und studiert Philosophie in Mexiko-Stadt. Mit ihrem abgeklärten Lächeln, der abgewetzten Jeans und den verwuschelten, schulterlangen Haaren wirkt sie älter. Im Moment will Rivera eigentlich ihre Semesterferien genießen. Doch das, was in den vergangenen Monaten an der UNAM, Mexikos größter Hochschule, passiert ist, lässt sie nicht los.
Denn im Herbst, an einem Mittwoch Ende Oktober, fand die Polizei ihren Freund Carlos Cuevas tot am Straßenrand: 16 Kugeln hatten ihn getroffen - am Abend zuvor hatten sie noch geredet und gescherzt. "Er war ein Freund, der sich immer für andere eingesetzt hat", sagt sie heute. Mariana schluckt, der Wind in Mexiko-Stadt weht ihr den Staub der Millionenstadt in die feuchten Augen.
Der blutige Konflikt ist an den Unis angekommen
Carlos Cuevas ist wahrscheinlich eines von 47.000 Opfern, die der mexikanische Drogenkrieg in den vergangenen fünf Jahren gefordert hat. Die meisten Morde gibt es im Norden Mexikos: in den Anbaugebieten und an den Schmuggelrouten der Drogen. Längst aber ist der blutige Konflikt auch in großen Städten, den kulturellen Zentren, angekommen - und offenbar auch an der UNAM.
Die Drogenbanden massakrieren sich seit Jahren gegenseitig. Die Regierung versucht die Gewalt wiederum mit Waffen zu stoppen - ein blutiges Chaos, in dem immer wieder Unschuldige zwischen die Fronten geraten.
Den Kartellen gehe es längst nicht mehr nur darum, Drogen zu verkaufen oder Schmuggelrouten zu sichern, sagt Arturo Alvarado, Professor für nationale Sicherheit an dem Lehrinstitut Colegio de México, einer geisteswissenschaftlichen Hochschule. Universitäten seien eben schwer zu schützen, sagt Alvarado. Trotz des Sicherheitspersonals, das heute an vielen Hochschulen patrouilliert: "Es gab Übergriffe auf Studenten - außerhalb der Universitäten und auch schon auf dem Campus." Mehrere Professoren seien schon entführt, erpresst und einige sogar ermordet worden.
Mit dem Drogenhandel oder den Recherchen der Wissenschaftler hätten die Übergriffe aber in der Regel nichts zu tun, sagt Alvarado. Es geht um Geld. Denn die Mafiabanden haben ihr Geschäftsfeld erweitert. "Die organisierte Kriminalität greift immer da an, wo es Geld zu holen gibt."
Nicht nur Universitäten werden mit Schutzgeldzahlungen erpresst, auch Schulen, egal, ob winzige Grundschule auf dem Land oder mondänes Privatgymnasium in einer Großstadt. "Die Banden wissen, dass es dort etwas zu holen gibt", sagt Alvarado. "Dass es Bildungseinrichtungen sind, die sie angreifen, interessiert nicht."
Mehr Furcht vor der Prüfung als vor einer Schießerei
Javier Oliva ist Professor für politische Wissenschaft an der UNAM. Sein Spezialgebiet: der Drogenhandel. Die Polizei allein werde mit den schwerbewaffneten Kartellen nicht fertig, sagt er. Deshalb kommt das Militär. Übergriffe gebe es durchaus auch von korrupten Soldaten. Trotzdem sieht es Oliva ähnlich wie sein Kollege Alvarado: Professoren könnten ohne Einschränkungen forschen, auch über den Drogenhandel.
Und seine Studenten fürchten sich in der Regel mehr vor der nächsten Prüfung als vor einer Schießerei. Trotzdem bleibt seine Fakultät von den Banden nicht unberührt: "Die Universitäten sind ein riesiger Markt für Drogen in Mexiko", sagt Oliva. "Wer diesen illegalen, aber einträglichen Handel durcheinander bringt, der schneidet sich am Ende ins eigene Fleisch."
Viele Studenten fühlen sich trotzdem nicht mehr wohl - wie Mariana Rivera. Auch sie glaubt, dass der Drogenkrieg etwas mit dem Tod ihres Kommilitonen Cuevas zu tun haben muss. Ein Jahr vor dem Mord hatten Studenten ein Forum gegen die Militarisierung des Landes gegründet. Ihre Forderung: Es sollten nicht mehr an jeder Ecke bewaffnete Soldaten stehen.
Wer ist bloß als nächstes dran?
Auch Carlos Cuevas wollte, dass die Waffen verschwinden: Denn Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, könne keine Lösung sein. Mariana Rivera glaubt, dass ihr Freund deswegen ermordet wurde - weil er die Eskalation der Gewalt im Kampf zwischen korrupten Soldaten, Polizisten und brutalen Gangstern offen kritisiert hat. Die Hintergründe sind noch nicht bekannt. Die Polizei ermittelt, bisher allerdings ohne Erfolg. Den Mord an ihrem Freund sieht sie als Botschaft: "Man versucht uns einzuschüchtern", sagt Mariana Rivera.
Riveras Angst hat einen Grund: Ihr Freund Carlos Cuevas ist verfolgt worden, sagt sie. Und auch ihr sei schon aufgelauert worden: Auf einer Demonstration kam ein Mann auf sie zu und fragte nach ihrem Freund und wann sie ihn das nächste Mal in Ciudad Juárez besuchen wolle. Mariana Rivera erschrak: "Ich hatte den Kerl vorher noch nie gesehen, und er wusste, wo mein Freund wohnt", sagt sie.
Mehrere Tage habe der Fremde sie verfolgt. Mariana Rivera vermutet, dass sie überwacht wird, weil sie die korrupte Polizei, das Militär und die Mafiabanden kritisiert. Jetzt sieht sie sich in der Gefahr, zwischen den Fronten aufgerieben zu werden. Denn dass auch die vermeintlichen Ordnungskräfte, die Soldaten, zur Eskalation der Gewalt beitragen, zeigt ein Bericht von Amnesty International. 6000 Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen, die mutmaßlich von Militärangehörigen begangen wurden, sollen demnach bis Anfang 2012 angezeigt worden sein. Besonders problematisch sei die unzureichende Strafverfolgung.
Soldaten hätten quasi einen Freifahrtschein für unkontrollierte Vergewaltigungen, Folter oder sogar Mord, sagt Isabel Meyer, Mexiko-Referentin von Amnesty International. Auch die mexikanische Statistikbehörde INEGI schätzte 2011, dass 92 Prozent aller Straftaten straffrei bleiben.
Dadurch, dass so viele Waffen im Umlauf seien und die Polizei so gut wie nie einen Mörder zur Rechenschaft ziehe, würden viele Konflikte mit Gewalt aus dem Weg geräumt, meint Mariana Rivera. Das Problem sei, dass in Mexiko im Moment eben keiner für Sicherheit sorgen könne.