
Ganz allein: Warum so viele Studenten einsam sind
Einzelkämpfer an der Uni Hilfe, wir vereinsamen
Ein Freitag Anfang Februar, es ist kurz nach 18 Uhr. Pia* betritt die Mensa der Uni Köln, die abends bis 21 Uhr geöffnet hat. Die Studentin holt sich Gemüsetaler, Kartoffelecken und eine Cola, dann setzt sie sich an einen der Tische und legt ihr Smartphone neben den Teller. Sie isst einen Happen, trinkt einen Schluck, surft zu Facebook.
Pia, 26, erstes Semester Erziehungswissenschaften, geht, wenn überhaupt, nur abends in die Mensa der Kölner Uni, nie am Mittag. Weil die Campus-Kantine dann relativ leer ist, fällt es nicht so sehr auf, dass sie fast immer allein kommt. "Ich fühle mich komisch zwischen den ganzen Gruppen", sagt sie. "Und vielen scheint es ähnlich zu gehen wie mir." Pia blickt sich um, deutet auf all die anderen Tische, an denen Männer und Frauen ganz für sich sind, oft mit einer Zeitung oder einem Buch neben dem Teller.
Trotzdem wird die Studentin auch am Abend ihr Unbehagen nicht ganz los. "Man versucht immer, nicht so viel herumzugucken, man will ja keinen anstarren. Man will aber auch nicht zu lange auf den Teller gucken, das wirkt auch irgendwie blöd", sagt sie und nickt zu ihrem Smartphone. "Deswegen beschäftige ich mich zwischendurch immer damit, das sieht irgendwie nach sozialem Leben aus, man will ja nicht, dass die anderen denken, man hätte keine Freunde."
Tatsächlich geht es vielen Studenten so wie Pia. Sie schaffen es nicht, in der anonymen Welt der Seminare und Vorlesungen neue Bekanntschaften zu schließen. Sie tun sich schwer, in der fremden Stadt anzukommen. Sie sehnen sich zurück in die Heimat - und stehen sich dabei oft selbst im Weg.
Sechs Monate in Köln, null Kontake
Wie einsam sich Deutschlands Studenten fühlen, hat kürzlich die Arbeitsgruppe Hochschulforschung der Universität Konstanz herausgefunden. Sie erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung alle zwei bis drei Jahre den sogenannten Studierendensurvey und schaut den angehenden Akademikern dabei ein bisschen in die Seele. Beim letzten Survey, für den 7590 Hochschüler befragt wurden, kam unter anderem Folgendes heraus: Fast die Hälfte der Studierenden fühlt sich "nur auf Leistung reduziert", ein Drittel vermutet, dass es niemandem auffallen würde, wenn sie plötzlich fehlten. "Und jeder Siebte hat bei Studienproblemen überhaupt keinen Ansprechpartner, weder unter Kommilitonen noch unter Dozenten", sagt Michael Ramm, Mitglied der Forschergruppe.
Für ältere Studenten wie Pia ist es oft besonders schwer, Anschluss zu finden. Die 26-Jährige hat ein Lehramtsstudium abgebrochen und nun in Köln ihr zweites Studium begonnen. In den Seminaren und anderen Veranstaltungen sitzt sie zumeist neben 18- oder 19-Jährigen, die sich offenbar schwertun, Freundschaften mit Menschen zu schließen, die weit über 20 sind. Pia ist jetzt seit sechs Monaten in Köln - und hat noch keine Kontakte knüpfen können.
Die Jüngeren sind an Deutschlands Hochschulen zurzeit so stark vertreten wie noch nie. Das liegt daran, dass es in den vergangenen Jahren in einigen Bundesländern doppelte Abiturjahrgänge gab. Daher sind ältere Studenten mehr denn je auf sich allein gestellt - vor allem, wenn sie schon Kinder haben. Die Belange von Eltern "unter vielen kinderlosen Kommilitonen", stellt das Institut für Hochschulforschung an der Uni Hannover fest, "besitzen einen relativ geringen Aufmerksamkeitswert".
Eine, die das am eigenen Leib erlebt hat, ist Bianca Entmann. Bis Februar studierte die 25-Jährige Energietechnik und Ressourcenoptimierung an der Hochschule in Hamm-Lippstadt, einer kleinen Fachhochschule mit etwas mehr als tausend Studenten. Jetzt hat Bianca das Studium abgebrochen, sie wird demnächst bei einer Firma im Energiemanagement arbeiten. Einer der Gründe für diese Entscheidung: Sie fühlte sich an der Hochschule ziemlich übergangen.
"Ich war die einzige Mutter in meinem Studiengang"
Bianca, die zuvor eine Ausbildung als Speditionskauffrau gemacht hatte, kam nicht nur später als andere an die Uni, sondern auch als Mama des dreijährigen Luca. "Ich war die einzige Mutter in meinem Studiengang", erzählt sie. "Sobald die anderen gehört haben, dass ich einen Sohn habe, waren sie distanzierter." Viele Kommilitonen hätten sich regelmäßig zu Kneipentouren nach Dortmund oder Münster verabredet, da sei sie aber nie dabei gewesen. "Die anderen haben wahrscheinlich gedacht, die fragen wir erst gar nicht, die wird eh nicht mitkönnen", vermutet sie. Auf die Idee, dass auch mal Lucas Vater Christian, mit dem Bianca zusammenlebt, hätte einspringen können, kam wohl niemand.
Die verschulten Bachelorstudiengänge und die starke Konkurrenz um die wenigen Masterplätze würden es den Studenten auch nicht unbedingt leichter machen, sich umeinander zu bemühen, glaubt Wilfried Schumann, Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle der Universität und des Studentenwerks Oldenburg. An der Humboldt-Universität Berlin liegt die Chance auf einen Platz im Masterstudiengang bei 50 Prozent, die Uni Hamburg verzeichnete zum Wintersemester 2011/12 insgesamt 7685 Bewerbungen auf 2602 Plätze. "So kommt es zu einem neuen Einzelkämpfertum, das Einsamkeit an der Uni stärker befördern kann", sagt Schumann.
Hasham Daqiq ist einer derjenigen, die einen Platz als Masterstudent ergattern konnten. Der 26-Jährige kommt aus Afghanistan, hat seinen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften gemacht und danach als Dozent an der Hochschule in Kandahar gelehrt. Um seine Chancen für eine Uni-Laufbahn zu verbessern, bewarb er sich 2009 über den Deutschen Akademischen Austausch-Dienst an der Ruhr-Universität Bochum für ein englischsprachiges Masterprogramm und wurde genommen.
"Die Studenten, die auf meiner Etage wohnen, kenne ich kaum"
Seit August vorigen Jahres lebt Hasham nun in einem Land, das ihm fremd ist. Einsam fühlt er sich nicht unbedingt. Mit der Ruhr-Universität hat er eine Hochschule erwischt, die ausländischen Studenten sehr offen und herzlich begegnet. So gibt es dort "Study Buddy", ein Programm zur Vermittlung von Freizeitkontakten.
Über das Programm hat Hasham Bea kennengelernt, eine Sozialarbeiterin Anfang 30. Jetzt unternehmen die beiden regelmäßig etwas miteinander, was ein Segen für ihn ist, weil es in seinem Wohnheim ziemlich anonym zugeht.
"Die Studenten, die auf meiner Etage wohnen, kenne ich kaum", sagt Hasham. Wenn Semesterferien sind, ist das Wohnheim wie ausgestorben: Während viele zu ihren Eltern fahren, kann Hasham nicht einfach weg, "der Flug nach Afghanistan ist zu teuer". Damit er dann nicht zu viel Heimweh bekommt, hat er bewusst keine Fotos seiner Familie in sein Zimmer gehängt. "Wenn ich die Bilder angucken würde", sagt er, "würde mich das zu traurig machen."
Studenten, die mal reden müssen über ihr Alleinsein und andere Dinge, die auf ihrer Seele lasten, können sich bei einer der "Nightlines" melden, das sind Sorgentelefone von Hochschülern für Hochschüler. Es gibt acht "Nightlines" bundesweit, die Mitarbeiter wollen anonym bleiben, um die Hemmschwelle für potentielle Anrufer so niedrig wie möglich zu halten.
Seit 2008 engagiert sich die 25-jährige Andrea bei der Freiburger "Nightline". "Einsamkeit", sagt sie, "ist der Klassiker unter den Themen der Studenten." Vor allem zu Beginn eines Wintersemesters riefen viele deswegen an. Sie rät dann zum Uni-Sport, zum Engagement in einer Fachschaft oder bei einer Studentenzeitung. "Ich versuche, mit den Anrufern Möglichkeiten zu erarbeiten, die zu ihnen passen. Das klappt allerdings längst nicht immer."
Andrea weiß, wie es den Anrufern geht. "Ich habe mich auch anfangs an der Uni auf verlorenem Posten gefühlt." Erst nach vier Semestern habe sich das gelegt - eine lange Zeit. "Manchmal", sagt sie, "braucht man viel Geduld. Und sehr viel Kraft."
*Name geändert