Elite-Uni Harvard Triumph der Rebellen

Der Aufstand in Harvard ist beendet. Drei Wochen lang hatten die oft als Eliteschnösel geschmähten Studenten protestiert, weil die reichste Uni der Welt einfachen Angestellten nur Hungerlöhne zahlt. Nun lenkt die Hochschule ein.
Von Jochen A. Siegle und Jochen Leffers

Für die Rebellen war es ein triumphaler Auszug: Als die 26 bleichen und ausgezehrten Studenten ihr Sit-In am Dienstag nachmittag abbrachen, empfingen hunderte von Kommilitonen sie mit Jubelrufen und roten Rosen. Seit dem 18. April hatten sie das Harvard-Verwaltungsgebäude besetzt gehalten. Damit wollten die Studenten ihre Universität zwingen, den Arbeitern akzeptable Mindestlöhne zu zahlen.

Wochenlang hatte die Verwaltung auf stur geschaltet, doch jetzt bahnt sich eine Lösung an: Rechtzeitig vor den Prüfungen rangen die Studenten der zunächst kompromisslosen Uni Zugeständnisse ab. Dafür formiert sich ein Komitee aus Dozenten, Verwaltungsmitarbeitern, Studenten und Angestellten. Auf der Tagesordnung stehen eine mögliche rückwirkende Gehaltserhöhung zum 1. Mai sowie die Frage der Krankenversicherungsbeiträge. Außerdem hat Harvard zugesichert, die Auftragsvergabe an Subunternehmen zu stoppen. Viele Arbeiter werden bisher nicht von der Hochschulen beschäftigt, sondern stehen zu miserablen Bedingungen auf den Gehaltslisten von Vertragsfirmen.

Auch wenn die Studenten nicht alle Forderungen auf einen Schlag durchboxen konnten, feierten sie das Ende des Aufstands als Erfolg. "Wieder draußen zu sein, ist noch schöner, wenn ich weiß, dass wir etwas Gutes erreicht haben", sagte der 22-jährige Student Brent Zettel. "Ihr seid das moralische Gewissen der Universität", lobte ein Gewerkschafter die Studenten, "ich hoffe, meine Kinder werden genau wir Ihr aufwachsen." Und der demokratische Senator Edward Kennedy verglich die Protestler gar mit den erfolgreichen Baseballspielern der Boston Red Sox. Selbst die Harvard-Offiziellen zeigten sich mit der Einigung zufrieden.

Ausnahmezustand mit Woodstock-Reminiszenzen

In den letzten Wochen hatten sich in Harvard Szenen wie bei einem Woodstock-Revival abgespielt. Über hundert Studenten schlugen vor dem Verwaltungstrakt Zelte auf und verwandelten den Campus in einen riesigen Campingplatz. Aus Lautsprechern drang Salsa-Musik. Täglich liefen Kundgebungen. Unrasierte Mittzwanziger grüßten aus den Fenstern des roten Backsteingebäudes, an den Wänden prangten große Parolen auf Plakaten. Dutzende von Polizisten mussten das Gebäude des Harvard-Präsidenten Neil Rudenstine hermetisch abriegeln.

Grund der Belagerung: die kümmerlichen Gehälter für die Uni-Angestellten. "Kantinenarbeiter, Putzfrauen, Hausmeister oder Sicherheitsleute sollen endlich angemessen entlohnt werden", erklärt Geschichtsstudentin Amy Offner, "Harvard ist die reichste Uni der Welt und zahlt seinen einfachen Arbeitern nur Hungerlöhne." Schon vor zweieinhalb Jahren starteten zahlreiche Studenten die mittlerweile auch von US-Gewerkschaften unterstützte "Living Wage"-Kampagne.

Die Uni, größter Arbeitgeber in Cambridge, soll die bereits 1999 vom Cambridge City Council festgelegten Mindest-Stundenlöhne von 10,25 US-Dollar einhalten, fordern die Aktivisten. "Über 2000 Harvard-Angestellte verdienen deutlich weniger, viele gerade mal 6,50 US-Dollar", zürnt Offner. "Und damit lebt man hier definitiv unter dem Existenzminimum." Nicht selten brauchen unterbezahlte Harvard-"Service Worker" - meist lateinamerikanische Einwanderer - ein oder zwei Zusatzjobs, um ihre Familien über die Runden zu bringen.

Gratis-Vorlesungen statt Krankenversicherung

Die Univerwaltung zählt dagegen nur 400 Low-Budget-Angestellte, von denen keiner unter 8,05 US-Dollar pro Stunde verdiene. Und nicht zuletzt verwies sie darauf, dass die Service-Angestellten verschiedene Gratis-Lehrangebote nutzen könnten.

Kostenlose Bildung in Harvard mag eine feine Sache sein. Ob indes eine mexikanische Küchenfrau ohne Krankenversicherung von Philosophie-Vorlesungen oder freien Museumsbesuchen wirklich profitieren kann, hält die Studentenbewegung für sehr fraglich. "Als sich im April die Situation zuspitzte, haben wir das Verwaltungsgebäude besetzt", erzählt Offner.

"Das Ganze ist schon ein ziemlich starkes Stück", findet Professor Marshall Ganz: "Eine Institution wie Harvard mit einer 19-Milliarden-Dollar-Stiftung zahlt seinen Angestellten Hungerlöhne." Der Politikwissenschaftler ist einer von über 400 Harvard-Professoren, die die "Living Wage"-Kampagne unterstützen. Letzte Woche schalteten die Lehrkräfte gar eine ganzseitige Support-Anzeige in der "Boston Globe". Doppelt peinlich für die Elite-Schmiede: Unter den Befürwortern sind einige Nobelpreisträger.

Zahlreiche Prominente verfolgen das Geschehen auch vor Ort. Neben Senator Edward Kennedy statteten letzte Woche zum Beispiel der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich und Senator John Kerry der Alma Mater einen Besuch ab. Und auch die Hollywood-Stars Ben Affleck und Matt Damon solidarisieren sich mit der Aktion.

Keine Spur von politischer Moral

"Politisch, moralisch und vor allem auch ökonomisch brüstet sich Harvard damit, 'cutting edge' zu sein, und philosophiert über die Organisation kompletter Volkswirtschaften", sagt Marshall Ganz. "Daher ist es wirklich mehr als ironisch, dass es die Uni nicht einmal schafft, die eigenen Angestellten so zu bezahlen, dass sie sich eine Krankenversicherung leisten können."

Was Harvard erlebte, war der längste Belagerungszustand in der Geschichte der Renommier-Anstalt. Außer Lebensmitteln, Medikamenten und Hygiene-Artikeln kam nichts und niemand in das abgeriegelte Gebäude. Drei Wochen lang duschten die oft als Eliteschnösel verschrieenen Hausbesetzer nicht; Körperpflege samt Abwasch erledigten sie wenig zimperlich in Waschbecken.

Mit jedem Blockadetag wurde auch die Polizeipräsenz verstärkt, berichtet Pascal Wallisch: "Ohne Ausweis kam ich nicht mehr auf die Yard, den Zentralcampus." Der Berliner Psychologiestudent ist seit Februar zu einem Forschungsaufenthalt in Harvard und dokumentierte das Geschehen begeistert mit seiner Digitalkamera. "Ich hätte nie gedacht, dass es so was hier gibt", sagt Wallisch. "Die Uni ist ja eigentlich recht konservativ und auf Status bedacht."

Eine Räumung des Gebäudes stand für die Uni-Offiziellen eine Räumung nicht zur Debatte. "Der Einsatz von Gewalt würde einen enormen Prestigeverlust bedeuten", erklärt Ganz. Er sieht die soziale Ungerechtigkeit nicht als "Harvard-Problem, sondern vielmehr als eines der gesamten USA" - und hält es "auch nicht für unwahrscheinlich, dass sich die Protestaktion auf weitere Unis ausdehnt".

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