Studenten in der Türkei Erdogan treibt Geschlechtertrennung voran
An deutschen Unis wabert die Geschlechterdiskussion seit Jahrzehnten. In guten Phasen hat sie zu mehr Gerechtigkeit geführt, zu mehr Respekt. In schlechten reduziert sie sich darauf, ob das Binnen-I in ProfessorInnen Sprachgerechtigkeit herstellt oder ob es nicht doch der Gender-Gap in Professor_innen sein muss. Besonders Progressive streiten für das flexible Gendern: Der Unterstrich fällt zufällig irgendwo ins Wort, um kein Geschlecht besonders zu betonen - also Prof_essorinnen oder Pr_ofessorinnen.
An türkischen Hochschulen geht es im Geschlechterstreit um viel grundlegendere Dinge. Lange ging es zum Beispiel um die Frage, ob Frauen mit Kopftuch die Uni-Gebäude überhaupt betreten dürfen. Jetzt hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Geschlechterstreit im türkischen Bildungswesen mit einem neuen Vorstoß befeuert: Er fordert, männliche und weibliche Studenten dürften nicht "unter einem Dach" zusammenleben.
Wohlgemerkt: Erdogan empört sich nicht über gemischtgeschlechtliche Schlafsäle oder ähnliches - die gibt es eh so gut wie nie in der konservativen Türkei. Es geht um Studentenwohnheime wie jenes in Trabzon am Schwarzen Meer, wo Männer und Frauen auf dem Weg zu ihren Zimmern durch dasselbe Treppenhaus laufen.

Kopftuch-Debatte in der Türkei: Wie türkische Studentinnen ihr Haupt verhüllen
Seine konservativ-demokratische Regierung werde es nicht hinnehmen, dass unverheiratete Studentinnen und Studenten gemeinsam wohnten, wetterte Erdogan mehrfach. In drei von vier staatlichen Wohnheimen ist die Geschlechtertrennung nach seinen Worten bereits vollzogen. Auch bei anderen Studentenwohnformen werde die Regierung aus ihren konservativen Grundüberzeugungen heraus "intervenieren".
Mit den Mitteln des Sicherheitsapparats gegen Studenten-WGs?
Offenbar meint Erdogan damit auch Studenten-WGs in Metropolen wie Istanbul. Der Premier kündigte an, lokale Behörden dürften Beschwerden über das Zusammenleben unverheirateter Studenten in privaten Räumen nachgehen. Um solche Fälle zu ermitteln, solle auch auf Informationen von Sicherheitskräften zurückgegriffen werden. Dass die Fahnder nicht zimperlich im Umgang mit Studenten sind, haben sie immer wieder gezeigt. Mitunter landen Studenten im Knast, weil sie das Konzert der falschen Band besuchten.
Es ist ein weiterer Vorstoß Erdogans, sich in das Privatleben seiner Bürger einzumischen, so sieht es nicht nur die Opposition, sondern so sehen es auch türkische Studenten. Viele befürchten: Nachdem der umstrittene Premier bereits den türkischen Frauen empfahl, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen, und nachdem er den Ausschank von Alkohol beschränken ließ, zielt er jetzt aufs koedukative Erziehungswesen.
Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP warf Erdogan vor, die Türkei zu einem Nahost-Staat machen zu wollen, in dem es keine gemeinsame Bildung für Jungen und Mädchen mehr gebe. Sein Partei-Sprecher Haluk Koc, sekundierte, Erdogans Regierung wolle die Bürger ausspionieren. Die Angst geht um, die Wohnheim-Frage könnte nur ein weiterer Schritt in Richtung Islamisierung der Türkei sein.
Der Streit tobt seit einigen Tagen, mehrfach wetterte Erdogan gegen das Zusammenleben von unverheirateten jungen Männern und Frauen. Das "Wall Street Journal" schrieb vom neu aufflammenden "Kulturkampf" zwischen religiös-konservativen Erdogan-Anhängern und Kemalisten, die das laizistische Erbe des Republikgründers Atatürk verteidigen. Nicht zu vergessen sind all jene Sympathisanten und Angehörige der Gezi-Park-Bewegung, die sich vor einigen Monaten gegen Erdogan erhob.
Der Premier selbst äußerte sich am Mittwoch nicht weiter zum Thema, er reiste nach Finnland. Vizepremier Bekir Bozdag betonte allerdings, der Regierungschef handele auf der Grundlage der Verfassung, nach der die Regierung zum Schutz der Jugend verpflichtet sei. Mehrere türkische Zeitungen zitierten allerdings Rechtsexperten, die von einer Verletzung der Grundrechte sprachen.
Zudem sind auch in der Türkei die allermeisten Studenten volljährig, der Jugendschutz ist da ein ziemlich merkwürdiges Argument.