Feuchtgebiete Verknallt in Charlotte
Ich fand die Roche schon immer toll. Viele Jahre habe ich gedacht, ich würde damit zu einem Club von Spezialisten gehören. Bis "Feuchtgebiete" erschien. Und plötzlich nicht nur Charlotte, sondern auch Hämorrhoiden, Muschischleim und Selbstbefriedigung mit Avocadokernen zum Thema wurden. Der Hype, da war er, ganz plötzlich.
Man spürt ihn auch vor dem Hörsaal 1 der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster - rund 800 Besucher, fast alle Studenten, haben sich bereits eine Stunde vor Beginn vor dem Saal versammelt. Laut Veranstalter gab es bisher nur bei zwei anderen Gästen mehr Andrang: Stefan Raab und Jürgen Habermas.
Thema des SPIEGEL-Gesprächs ist "Abschied vom Hardbody? Die Lust am unperfekten Körper", aber das ist eigentlich egal. Die meisten hier wollen nur eins: Charlotte sehen. "Ich will mehr über die Hintergründe erfahren - angeblich sollen ja 80 Prozent des Romans autobiografisch sein", sagt der 20-jährige BWL-Student Simon Wolff. Werden wir jetzt endlich erfahren, ob Charlotte Roche früher tatsächlich genau wie ihre Heldin Helen Memel mit ihrer Freundin auf dem Schulklo benutzte Tampons getauscht hat?
"Ich kenne Charlotte noch von Fast Forward"
Der ganze Erfolg macht natürlich auch misstrauisch. "Das war doch reine Kalkulation", glaubt Martin, 31, Grafiker, "etwas zu schreiben, was die Medien garantiert furchtbar und schockierend finden werden. Ich gucke heute mal, wie jemand aussieht, der auf diesem Weg mehr als eine halbe Million Bücher verkauft hat."
Neugierig bin ich auch, wie sie denn so ist, die Charlotte als Bestseller-Autorin - und ob ich von ihr noch was lernen kann. Ich habe selbst zwei Romane geschrieben, in denen gibt's zwar auch Sex, aber verglichen mit den "Feuchtgebieten" wirken sie wie ein katholisches Mädcheninternat mit "Hände immer über der Bettdecke"-Vorschrift. Ich habe auch kein einziges Mal das Wort "Muschi" benutzt, nur ganz selten "Schwanz". Wäre das der Weg in die Feuilletons und auf die Bestseller-Liste gewesen? Das kann ja nicht das einzige Kriterium sein.
"Ich kenne Charlotte noch von 'Fast Forward' auf Viva." So beginnen die meisten Antworten, wenn ich die Studenten nach ihrer Meinung zu "Feuchtgebiete" frage. Fast alle reden über sie wie über eine gute Freundin, eine alte Bekannte. Auch ich ertappe mich dabei: Charlotte Roche war vor zehn Jahren, als sie im Musikfernsehen begann, die Coolste überhaupt, hatte die tollsten Klamotten an, den besten Humor, hörte die richtige Musik und machte dreiste Interviews. Sie war das Role Model der Mädels, die Jungs waren von ihrem Musikwissen beeindruckt.
Und dass sie dabei immer in einer Nische blieb, mit schlechten Quoten und Absetzung gestraft wurde, machte es noch viel einfacher, ihr Fan zu sein: Man hatte damit den Beweis, dass der eigene Geschmack eben viel klüger und exquisiter war als der der Masse. Mit dem Erfolg von "Feuchtgebiete" hat sich das erledigt - und wohl auch deshalb klingt die Aussage "Ich kenne sie noch von 'Fast Forward'" immer ein bisschen wie eine Rechtfertigung.
Betont abgeklärte Lockerheit
Die Meinungen der Studenten über den Roman unterscheiden sich kaum: Ja, es sei schon ziemlich eklig, aber auch interessant, mal was anderes, die Thematik anzusprechen sei wichtig. Deutliche Kritik am Roman wäre eben auch Kritik an Charlotte. Außerdem: Wer will schon gern zugeben, dass seine Schamgrenze überschritten wurde? Das wäre ja verklemmt.
So herrscht betont abgeklärte Lockerheit bei den Studenten: "Ekel vor dem menschlichen Körper kenne ich nicht. Ich bin generell dafür, Dinge in den Mund zu nehmen. Mit meinen Freundinnen rede ich auch so offen", behauptet Anne, 23, Lehramtsstudentin, und grinst anzüglich. Kommilitonin Anke, 28, ergänzt: "Und meistens sind wir ganz rattig nach solchen Gesprächen!" Gut, da haben zwei aber ihre Hausaufgaben gemacht. Wahrscheinlich gucken sie in ihrer Freizeit auch am allerliebsten und ohne mit der Wimper zu zucken "2 Girls 1 Cup" auf YouTube.
Als Charlotte Roche pünktlich um 19.30 Uhr den Hörsaal betritt, herrscht Popkonzert-Atmosphäre. Applaus, Jubel und Hunderte gezückte Handy-Kameras begleiten ihren Einzug, "Hallo Münster!", ruft sie in die Menge und winkt. Zierlich und sehr unschuldig wirkt sie in ihrem Fünfziger-Jahre-Blümchenkleid und dem blauen Strickjäckchen, als sie auf der Bühne Platz nimmt. Jedenfalls nicht so, als hätte sie Sätze wie diesen geschrieben: "Normalerweise stecke ich mir bei steigender Geilheit die Muschifinger in den Arsch."
"Die Leute denken jetzt, ich sei die größte Sau aller Zeiten" - dabei will Charlotte doch nur spielen
Charlotte Roche ist auf der Bühne zu Hause, das merkt man. Charmant, mit Witz und vor allem mit entwaffnender Ehrlichkeit beantwortet sie die Fragen der SPIEGEL-Redakteure Claudia Voigt und Moritz von Uslar. Lacher aus dem Publikum, verzücktes Kichern, zustimmendes Nicken.
Erstes Thema ist der immense Erfolg ihres Romans und die Frage, ob es nicht doch reines Kalkül war. "Ich schwöre beim Leben meiner Tochter, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass dieses kranke Buch ein Massenphänomen wird. Die Leute müssen verrückt sein." Auch der Verlag hatte diese Verkaufszahlen offenbar nicht vorhergesehen, die Erstauflage war 31.000 Exemplare. "Ich habe mal in Buchhandlungen nachgefragt, wer denn so meine Käufer sind: 70 Prozent Studentinnen, 30 Prozent alte Männer - aber die Männer legen immer noch einen SPIEGEL drüber, wenn sie zur Kasse gehen."
Anfragen für eine Verfilmung gibt es auch schon. "Das will doch keiner sehen! Nie sieht man eine Landschaft, man kann doch nur wabbelnde Schamlippen in Großaufnahme zeigen. Dann kotzen die Leute im Kino über ihre eigene Erektion." Charlotte grinst, brüllendes Gelächter im Saal.
Und wie viel Charlotte Roche steckt denn nun wirklich in Helen Memel? "Die Leute denken jetzt, ich sei die größte Sau aller Zeiten. Aber das ist gar nicht so! Ich habe selbst Probleme, über diese Themen zu reden, ich spreche auch nicht mit meiner besten Freundin über Ausfluss." Hinter mir flüstert eine junge Frau erleichtert ihrer Sitznachbarin zu: "Siehste, die ist selbst gar nicht so krass." Auch das restliche Publikum wird noch beruhigt: "Man soll das doch nicht alles nachmachen! Ich bin auch für einmal am Tag duschen. Das Buch ist eine überdrehte Veräppelung von wie bescheuert wir heute alle sind."
"Heute nicht in die Zeitung XY gucken"
Also alles gar nicht so schlimm, Charlotte will doch nur spielen. Kritik blendet sie vollkommen aus: "Ich habe jedes Verständnis für Leute, die das Buch vor lauter Wut an die Wand schmeißen, mit denen lege ich mich auch nicht an. Rezensionen lese ich nicht. Bei größeren Sachen schickt mir mein Verlag eine SMS: Heute nicht in die Zeitung XY gucken! Und über Literatur kann man mit mir gar nicht reden, davon habe ich keine Ahnung. In den letzten fünf Jahren habe ich genau ein Buch gelesen, 'Der große Gatsby'. Ich schreibe einfach so, wie ich spreche - also ziemlich platt, immer auf Gag."
Charlotte Roche stapelt auf ihre charmante Art dermaßen tief, dass sie damit fast unangreifbar wird. Es ist unmöglich, sie unsympathisch zu finden - sollte es Taktik, eine Rolle sein, dann spielt sie sie verdammt überzeugend. Als im Saal ein Handy klingelt, ruft sie: "Du musst jetzt rangehen und Muschi sagen!"
Eins muss unbedingt auch noch geklärt werden - Charlotte, wie hältst du's mit dem Achselhaar? "Ich bin auch rasiert, ich seh schon, dass Sie da die ganze Zeit hingucken", nimmt sie Moritz von Uslar die Frage vorweg. "Ich würde mich heute nicht mehr trauen, wie früher mit Achselhaaren zu moderieren. Der Druck wird stärker, davon kann ich mich auch nicht freimachen. Trotzdem kann ich ja darüber reden. Auch Frauen wachsen Haare!"
Spontaner Applaus in den Hörsaalreihen, vor allem die Mädels klatschen begeistert. Doch als Charlotte verkündet, dass ihr Traummann gern auch Haare auf dem Rücken haben darf, entweicht aus einigen Kehlen ein entsetztes "Iiiiiih!". Ganz so weit ist es mit der Körperbehaarungstoleranz also doch nicht her.
Am Ende des Abends sind alle verknallt
Nach der Diskussion umlagern etwa 200 Leute Charlotte Roche am Signiertisch. Sie wollen Autogramme, Widmungen oder ein Foto mit ihr - und die Autorin macht auch dies noch bestens gelaunt mit. Hat für jeden einen netten Spruch, posiert Arm in Arm mit wechselnden Jungs und Mädels vor Handy-Kameras, unterschreibt Geburtstagskarten, widmet ein Buch auf Wunsch auch der "geilen unrasierten Männer-WG" und malt noch ein paar kleine Penisse darunter. Am Schluss lassen sich sogar die Männer vom Sicherheitsdienst nett lächelnd mit ihr fotografieren.
Ein bisschen verknallt sind wohl alle nach ihrem Auftritt. Das ist der Charlotte-Effekt. "Mir hat echt gut gefallen, dass sie so authentisch ist", sagt der 22-jährige Oliver Bakenfelder. "Es ist klar rübergekommen, dass sie eigentlich auch total verklemmt ist, das fand ich sympathisch", so Moritz Spiekermann, 21. Erleichterung überall - sie ist immer noch eine von uns!
Und vielleicht ist das auch der Grund, warum ihr dieses bis auf die Radikalität ziemlich überflüssige Büchlein verziehen wird: weil Charlotte Roche ohne Frage zu den Guten gehört und mit dem Thema eine wichtige Diskussion angestoßen hat. Da kann man über eine dürre Handlung und eine verhunzte Dramaturgie schon mal hinwegsehen.
Ich bin am Ende des Abends jedenfalls genauso beeindruckt und verknallt wie der Rest des Publikums. Insgeheim hätte ich ja doch gern zumindest einen kleinen Ansatz von Kalkül und kaltblütiger Berechnung hinter der ganzen Erfolgsgeschichte entdeckt - ist mir aber nicht gelungen. Einfach nachahmen kann ich ihren Weg zur Bestseller-Autorin somit leider auch nicht.
Fassen wir mal zusammen, wie sie es geschafft hat: Schon vor dem ersten Buch eine Fangemeinde zu haben, hilft. Mit Roger Willemsen befreundet zu sein, dem Geisteswissenschaftler mit Spaß am Schlüpfrigen, und damit zum Start einen intellektuellen Fürsprecher zu haben, ist auch nicht schlecht. Ein paar gesellschaftliche Tabus gründlich zu brechen und als Kämpferin für ein anderes Frauenbild aufzutreten, bringt zusätzliche Aufmerksamkeit und Sympathien.
Aber die entscheidende Zutat im Erfolgsrezept ist sicher der Charlotte-Effekt. Und den kann man leider nicht einfach kalkulieren, der ist eine Begabung. Und der überlebt sicher auch noch den Hype.
Judith Liere, 28, schrieb bis 2006 die UniSPIEGEL-Kolumne "Judiths Universum". Ihre beiden Romane heißen: "Hit-Single" (Rowohlt Verlag) und "Probezeit" (Piper Verlag).